Im Gastblog analysiert der Politikwissenschafter Thomas Schmidinger die Kämpfe zwischen der irakischen Armee und der jesidischen Miliz.

Seit den Morgenstunden des 2. Mai wird der Nordwesten der Region Sinjar (Kurdisch: Shingal) von Kämpfen zwischen der irakischen Armee und der jesidischen Miliz der Widerstandseinheiten von Shingal (YBŞ) erschüttert. Davon am stärksten betroffen ist jene Region in die nach dem Genozid des so genannten Islamischen Staates die meisten Überlebenden zurückgekehrt sind. Nun haben sich erneut Tausende Überlebende auf die Flucht begeben.

Fragile Ausgangssituation

Die Rückeroberung jenes Gebietes, das im August 2014 Schauplatz des Genozids des so genannten Islamischen Staates gegen die religiöse Minderheit der Jesiden war, auf Arabisch Sinjar auf Kurdisch Shingal genannt, brachte für diese Grenzregion zum Nordwesten des Irak eine komplexe politische und militärische Situation mit sich. Verschiedene rivalisierende jesidische Milizen, die die Zivilbevölkerung nach der Flucht der kurdischen Peshmerga gegen die Jihadisten verteidigten, teilten sich die Region auf. Bis zum Oktober 2017 kamen auch noch die Peshmerga von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans dazu, die im Zuge des fehlgeschlagenen Unabhängigkeitsreferendums der Autonomieregion Kurdistans, sich aus der Region wieder zurückziehen mussten. Zuletzt war der Westen der Region unter Kontrolle der Widerstandseinheiten von Shingal (YBŞ), einer lokalen Miliz, die von der syrisch-kurdischen YPG/YPJ und der PKK unterstützt wird.

Sherfedin, ein kleiner Ort im Nordwesten, befindet sich in Hand der Verteidigungskraft von Ezidxan (HPÊ), zu der auch die Reste der 2017 abgezogenen Peshmerga dazu gekommen sind. Der Rest überwiegend unter Kontrolle der irakischen Armee und der mit ihnen verbündeten Volksmobilisierungseinheiten. Jede der lokalen Einheiten wird von anderen Kräften unterstützt und auch der IS hat unter Teilen der arabisch-sunnitischen Bevölkerung in der weiteren Umgebung weiter Unterstützer. Dazu kommt noch, dass die Region ökonomisch stark von Schmuggel über die syrische Grenze abhängig ist. Dabei werden nicht nur Zigaretten und Alltagsgüter geschmuggelt, sondern auch Drogen und Waffen. Die kleine Region kam so immer mehr in den geopolitischen Fokus.

Bleibende Unsicherheit verhinderte die Rückkehr der meisten 2014 Vertriebenen aber zumindest im Nordwesten kehrten viele zurück. Die Kleistädte Khanasor und Sinune erhielten in den vergangenen Jahren wieder so etwas wie eine gewisse Normalität. Dabei war Khanasor die wichtigstes von der YBŞ kontrollierte Stadt, Sinune wurde von irakischer Armee und YBŞ verwaltet.

Türkische Angriffe und politische Nichtlösung

In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Angriffen der Türkei auf Stellungen der YBŞ, die aus türkischer Sicht nichts anderes als ein Teil der "Terrororganisation PKK" ist. Dabei wurden einerseits gezielt wichtige Kommandanten der YBŞ getötet aber vielfach auch Zivilisten getroffen. Kleinere Auseinandersetzungen aber auch zwischen verschiedenen anderen Milizen, sowie zwischen irakischer Armee und YBŞ.

Diese Atmosphäre der Unsicherheit hinderte viele der 2014 geflohenen Jesiden an einer Rückkehr in die Region. Forderungen nach einer lokalen Selbstverwaltung wurden von verschiedenen Seiten torpediert. Während die Regionalregierung Kurdistan das Gebiet weiterhin für sich beansprucht, gehört es formal zur Provinz Ninava mit der Hauptstadt Mosul. Zwar einigten sich die irakische Regierung in Baghdad und die Regionalregierung Kurdistans im Oktober 2020 auf eine gemeinsame Verwaltung. Allerdings wurden die lokalen Kräfte nie eingebunden, was die damaligen Pläne nicht durchsetzbar machte. Die gesamte Region bleibt bis heute ein Militärsperrgebiet.

Angelobung von Kämpfern der YBS auf dem Berg Sinjar.
Thomas Schmidinger

Zuspitzung zwischen irakischer Armee und YBŞ

Während die YBŞ sich im westlichen Berggebiet gegen die Türkei verschanzte und weitläufige unterirdische Festungen baute, übernahm 2021 die irakische Armee immer mehr Teile der Staatsgrenze zu Syrien und damit auch das lukrative Schmuggelgeschäft. Die in die Enge gedrängte YBŞ versuchte mit symbolischen Aktion Präsenz zu zeigen und versuchte u.a. in Sinjar Stadt und damit außerhalb ihres eigentlichen Herrschaftsgebietes eine Statue für einen im August 2018 von der Türkei getöteten Kommandanten zu errichten. Da dies ohne Absprache mit der irakischen Armee erfolgte, wurde diese sogleich wieder geschliffen. Der lokale Kommandant der irakischen Armee ließ dabei auch mit einigen herablassenden Wortmeldungen von sich hören. Die Lage zwischen Armee und der eigentlich als legale Volksmobilisierungseinheit in Baghdad registrierten YBŞ spitzte sich so weiter zu.

Am Montag, den 2. Mai kam es dabei zu heftigen Kämpfen, bei denen ein irakischer Soldat und und wohl auch mehrere Kämpfer der YBŞ ums Leben kamen. Vor allem setzte damit aber ausgerechnet aus jener Region, in die viele der 2014 Vertriebenen zurückgekehrt waren, eine erneute Fluchtwelle ein.

Zeltlager von Vertriebenen auf dem Rücken des Sinjar Gebirges.
Thomas Schmidinger

Fluchtwelle

Die konkreten Zahlen der Geflüchteten sind umstritten. Klar ist, dass es ausgerechnet aus den wieder f.unktionierenden Ortschaften eine neue Fluchtwelle gibt. Die jüngsten Kämpfe hätten "Familien zur Flucht in die Region Kurdistan getrieben", viele davon in die Provinz Dohuk, sagte Dayane Hamo, ein für die Krisenbewältigung zuständiger Beamter der Regionalregierung Kurdistans. Hamo erklärt, innerhalb von drei Tagen habe sich ihre Zahl auf 1.711 Familien und 10.261 Personen erhöht. Wie viele tatsächlich in der Autonomieregion Kurdistan Zuflucht suchen, ist Gegenstand heftiger Debatten. Gegner der dort regierenden Demokratischen Partei Kurdistans werfen dieser vor, die Zahl zu übertreiben um damit Stimmung gegen die verfeindete YBŞ bzw. PKK zu machen. Vor Ort erzählen Zivilistinnen und Zivilisten jedenfalls, dass es nicht nur in die Autonomieregion Kurdistan, sondern auch wieder auf den Berg Sinjar selbst eine Fluchtbewegung gab. Einige der am Montag auf den Berg geflohenen, sind mittlerweile zwar in ihre Häuser zurückgekehrt, nachdem Montagnacht eine zeitlich befristete Waffenruhe verkündet worden war. Insgesamt bleibt die Lage aber extrem angespannt.

Die von Internationalen Organisationen, wie der IOM unterstützte Rückkehr der 2014 vom IS geflohenen Jesiden, könnte mit dieser Fluchtbewegung nachhaltig gefährdet sein. Sollten die Kämpfe in den nächsten Tagen fortgesetzt werden und die irakische Armee tatsächlich den Versuch unternehmen die YBŞ aus ihren Bergfestungen zu vertreiben, stünde der Region ein langer blutiger Konflikt bevor, der auch die letzte Hoffnung nach Rückkehr und Wiederaufbau zu Nichte machen könnte. (Thomas Schmidinger, 9.5.2022)

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