Alt werden und diese Jahre auch in Gesundheit genießen können – das wäre das ideale Ziel. Die Bilanz in Österreich ist da aber nicht die beste. Denn hierzulande ist die individuelle Gesundheitskompetenz nur mäßig ausgebildet.

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Eigentlich hat Österreich ein richtig gutes Gesundheitssystem. Es kann definitiv in der obersten Liga mitspielen. Nur nützt das nicht immer was. Ein perfektes Beispiel dafür ist die österreichische Diabetesbilanz. Bis zu 800.000 Personen leiden hierzulande an der Stoffwechselerkrankung, wie eine Erhebung der Wiener Arbeiterkammer zeigt. Die gesundheitlichen Folgen sind enorm. Rund 300 Patientinnen und Patienten pro Jahr werden wegen Nierenversagen dialysepflichtig, 200 Menschen erblinden als Folge von Diabetes. Und die unzureichende Versorgung des diabetischen Fußsyndrom führt zu rund 3.000 Amputationen jährlich. Dabei liegen die Diabetes-bezogenen Gesundheitskosten in Österreich laut Studien weit über dem EU-Schnitt, bei rund drei Milliarden Euro. Der Großteil der Kosten schlägt dabei für die Behandlung von Spätkomplikationen zu Buche.

Der Grund für diese erschreckenden Zahlen liegt im österreichischen Gesundheitssystem. Das ist nämlich großartig in der Behandlung von Krankheiten und ihren Folgen. Es setzt aber viel weniger Fokus auf Vorsorge und die laufende Versorgung chronischer Erkrankungen, um spätere Schäden möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen.

Gesunde versus tatsächliche Jahre

Was Diabetes im Kleinen zeigt, lässt sich umlegen auf den generellen Gesundheitszustand der Österreicherinnen und Österreicher. Die Lebenserwartung lag mit Ende 2021 immerhin bei 78,8 Jahren für Männer und 83,8 Jahren für Frauen. Die tatsächlich in Gesundheit verbrachten Jahre sind aber viel weniger. Das Austria Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) hat aufgezeigt, dass Frauen im Durchschnitt 58 gesunde Jahre genießen können, Männer 57. Der europäische Durchschnitt liegt aber bei 65 bzw. 64 Jahren.

Als gesunde Lebensjahre werden dabei jene gewertet, die tatsächlich frei von Krankheit oder körperlichen Einschränkungen verbracht werden können, erklärt Kathryn Hoffmann, Leiterin der Unit Versorgungsforschung am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien. Drei Kriterien werden für die Erhebung herangezogen: "Man schaut sich die Prävalenz von chronischen Erkrankungen an und wie häufig sie nach Lebensalter vorkommen. Man erhebt, wie selbstständig die Menschen im täglichen Leben sind, ob sie sich ohne Hilfe anziehen können, einkaufen gehen, keine Schmerzen haben. Und man fragt sie, wie gesund sie sich selbst einschätzen."

Vor allem bei der statistischen Auswertung der chronischen Erkrankungen hapert es aber, weil das Zahlenmaterial in Österreich schlecht ist: Es gibt keine standardisierten Zahlen aus dem niedergelassenen Bereich, keine ambulante Diagnosedokumentation, die Zahlen beruhen vielfach auf subjektiven Einschätzungen.

Das Hauptproblem: In Österreich wird sehr wenig in Prävention investiert, der seit Jahren geforderte Ausbau von Primärversorgungseinheiten (PVE) läuft mehr als stockend. Von den 75 bis 2023 geplanten Zentren gibt es aktuell lediglich 36. Dabei würden diese einige Vorteile bieten. Denn hier sind mit den Allgemeinpraktizierenden diplomierte Pflegekräfte, Diätologen, Psychotherapeutinnen, Sozialarbeiter und mehr vereint – und sehr viele der gebotenen Leistungen bezahle die Kasse, erklärt Maria de la Cruz Gomez Pellin, die Hausärztin in der PVE Sonnwendviertel in Wien Favoriten ist: "Wenn zum Beispiel jemand mit Kopfschmerzen oder Unruhe zu mir kommt, frage ich die soziale Situation ab. Dann stellt sich womöglich heraus, dass die Arbeitssituation unklar ist, und ich kann den Patienten gleich zum Sozialarbeiter zuweisen. Patienten mit chronischen Krankheiten wie Diabetes, COPD oder auch chronischen Schmerzen können vor Ort umfassend versorgt werden. Das ist ein sehr befriedigendes Zusammenarbeiten, auch wenn das noch viel besser ausgebaut werden kann."

Denn auch die PVEs rechnen ihre Dienste über das Leistungsspektrum der Gesundheitskasse ab. Gomez Pellin: "Das aktuelle Honorierungssystem benötigt dringend eine Reform. Ausführliche Patientengespräche über zehn Minuten werden nur in 18 Prozent der Fälle pro Quartal bezahlt. Andererseits bekommt man zum Beispiel immer Geld, wenn man für nichtspezifische Rückenschmerzen Schmerzmittel intravenös oder Lokalanästhetika subkutan appliziert, obwohl das leitliniengemäß nicht zur Behandlung angewendet werden soll und meistens die Verschreibung von Tabletten ausreichend ist. Wir brauchen ein System, das eine qualitativ hochstehende Versorgung für die Patientinnen und Patienten ermöglicht und sie sowie die Gesellschaft vor Fehl-, Unter- und Überversorgung schützt."

Fehlende Health-Literacy

Wie könnten Lösungsansätze für diese Probleme aussehen? Das hat die eingangs angeführte AK-Studie im Bereich Diabetes untersucht, es reicht ein Blick über die Grenzen. In Dänemark etwa, wo die Diabetes-Auswirkungen viel geringer sind, ist die Versorgung der Betroffenen sehr niederschwellig in PVEs oder spezialisierten, ambulanten Zentren organisiert. In Schweden und Großbritannien gibt es spezielle Diabetes-Krankenpflegerinnen und -pfleger. So werden Folgeerscheinungen der Krankheit rechtzeitig entdeckt und behandelt, das reduziert die Notwendigkeit von Amputationen, und die Krankenhäuser werden entlastet. Das Konzept lässt sich auch auf andere chronische Krankheiten umlegen, wie Asthma oder COPD.

Ein weiteres Problem: In Österreich ist die individuelle Gesundheitskompetenz oder Health-Literacy nicht so gut wie anderswo. Das ist aber nicht unbedingt der fehlenden Einzelverantwortung der Menschen geschuldet, es wird kaum vermittelt. In der Schule wird nicht gelehrt, wie man sich vor Krankheiten schützt, was ein gesunder Lebensstil ist und wie viel dieser zur Gesundheit beiträgt. Dabei sollte man unbedingt schon bei den Kindern ansetzen, um langfristig eine breite Gesundheitskompetenz aufzubauen, betont Public-Health-Wissenschafterin Hoffmann.

Und sie nimmt auch die Politik in die Pflicht: "Noch viel wichtiger, als Menschen von krankmachendem Verhalten wegzubekommen, ist es, Strukturen zu schaffen, die gesundes Verhalten einfacher machen, wie Health-Literacy in den Schullehrplänen zu etablieren, die Lebensmittelindustrie in die Pflicht zu nehmen, damit im Supermarkt gesunde Lebensmittel auf Augenhöhe positioniert werden statt Süßigkeiten, und die Verkehrsplanung für mehr sichere Radwege zu optimieren. Nur so kann es langfristig besser werden." (Pia Kruckenhauser, 9.5.2022)