Liberale Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sie muss ständig gegen Autokraten wie Putin, Orbán und Erdogan verteidigt werden.

Foto: Collage: Otto Beigelbeck

Autokrat kommt aus dem Altgriechischen und heißt "Selbstherrscher". Man könnte auch sagen, "ein starker Führer, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss" (das halten laut Sora-Demokratiemonitor konstant zwischen 15 und 20 Prozent der Österreicher für eine ziemlich gute Sache). Aber der Mann an der Spitze (es ist fast immer ein Mann) hat meist eine gewisse Legitimität, denn er wurde gewählt.

Putin, Erdoğan, Orbán, Kaczyński, Bolsonaro, Modi, allesamt autoritäre Typen, wurden in halbwegs demokratischen Systemen gewählt – und werden es heute noch. Sie verdanken ihre Macht keinem Militärputsch, es ist kein Aufstieg in einem von vornherein totalitären System wie von Xi Jinping in China. Es geht um Leute, die aus "jungen" Demokratien wieder undemokratische Regime gemacht haben. Oder es wollten, wie Donald Trump.

Besonders unangenehm: Auch in der EU sind Autokratien entstanden. Autokraten kommen meist in Gesellschaften an die Macht, die keine lange und starke demokratische Tradition haben: die exkommunistischen Staaten Russland, Ungarn und Polen; die lange vom Militär regierte Türkei; Brasilien mit Militärherrschaften; Indien mit einer ewigen Familienpartei. Aber auch an sich starke Demokratien wie die USA sind gefährdet. Hier ein Handbuch mit sieben Schritten für autoritäre, demagogische Persönlichkeiten (und jene, die sie verhindern wollen).

Schritt 1: Seien Sie nicht "Establishment", sondern ein "neuer Mann"!

Wladimir Putin kam fast aus dem Nichts. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war er mittlerer KGB-Funktionär, 1999 plötzlich Ministerpräsident, 2000 dann Präsident. Angeschoben hatte eine Clique aus "Silowiki", den "Machtorganen" und Oligarchen, die sein Potenzial sahen.

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Wladimir Putin kam fast aus dem Nichts.
Foto: Reuters / Sputnik

Viktor Orbán (Ungarn) und Jarosław Kaczyński (Polen) waren Dissidenten. Zuerst gegen den Kommunismus, dann gegen die traditionellen Christdemokraten und Sozialdemokraten. Donald Trump war Erbe eines Immo-Imperiums und Star einer Trash-TV-Show. Er vereinnahmte die nach George W. Bush verwirrte und richtungslose Republikanische Partei.

Recep Tayyip Erdoğan kam aus einer unter der Militärherrschaft verbotenen nationalreligiösen Partei und rebellierte gegen den antireligiösen "Kemalismus" des Staatsgründers Kemal Pascha Atatürk. Jair Bolsonaro war Fallschirmjäger und versprach Ordnung im brasilianischen Chaos. Narendra Modi positionierte eine Hindu-nationalistische Partei gegen Muslime und die alte Ordnung von miteinander verschwägerten Eliten (Familie Nehru-Ghandi).

Sie kamen als Newcomer an die Macht, als die alten Eliten abgewirtschaftet hatten. Ihre Wähler – meist untere Mittelschicht – waren frustriert und suchten nach Hoffnungsfiguren. Putin gewann seine erste Präsidentenwahl, weil ihn Oligarchen, denen die meisten Medien gehörten, unterstützten. Aber die russischen Wähler waren auch reif für einen, der Ordnung nach den chaotischen Jelzin-Jahren versprach.

Orbán gewann, weil die Leute genug hatten von Misswirtschaft der Sozialdemokraten. Trump versprach den weißen Arbeitern und Farmern die alte Vorherrschaft über die Farbigen und den Reichen Steuersenkungen. Erdoğan stützte sich auf die fromme, arbeitsame anatolische Mittelschicht.

Schritt 2: Nutzen Sie Ressentiments! Spalten Sie die Gesellschaft: in das "wahre Volk" – und die anderen.

Praktisch alle der genannten Autokraten waren/sind Nationalpopulisten. Sie nutzen das tatsächliche oder vermeintliche Versagen der traditionellen Parteien – Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale. Sie sprechen die "Abgehängten" an und machen Fremde zu Feindbildern.

Trump konzentrierte sich auf konservative, verängstigte Weiße; Putin auf die "echten Russen" (er begann sofort einen Vernichtungskrieg gegen die muslimischen Tschetschenen). Modi grenzt die Muslime gewaltsam aus. Orbán und Kaczyński reden von einem "christlichen Europa".

Populismus, vor allem Nationalpopulismus, braucht ein "wahres Volk", dem unmoralische, korrupte, liberale Eliten (und Minderheiten, "Ausländer") entgegenstehen. Trump versuchte Obama aus dem wahren Volk auszugrenzen, indem er behauptete, dieser sei gar kein geborener Amerikaner. Das wahre Volk braucht einen Volksführer, der den Volkswillen umsetzt. Damit ist der Weg zum Autokraten vorgezeichnet.

Schritt 3: Kommen Sie mit Demokratie an die Macht – und zerstören Sie diese dann!

Nach dem ersten Wahlerfolg gingen ausnahmslos alle daran, eine autoritäre Herrschaft zu festigen, indem sie die demokratischen Institutionen wie faire Wahlen, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, freie Medien schrittweise abbauten.

Recep Tayyip Erdoğan kam aus einer unter der Militärherrschaft verbotenen nationalreligiösen Partei und rebellierte gegen den antireligiösen "Kemalismus" des Staatsgründers Kemal Pascha Atatürk.
Foto: APA / AFP / Turkish Presidential Press Service / Murat Cetin Muhurdar

Manche der darauffolgenden Wahlen, wie etwa jetzt in Ungarn, waren zwar noch halbwegs frei, aber keineswegs mehr fair. Orbán ließ kritische Medien von Oligarchenfreunden (auch einem Österreicher) aufkaufen. Eine Medienbehörde kann Berichte verbieten. "Kardinalgesetze" sind praktisch unabschaffbar.

Putin nahm jenen Oligarchen, die Eigenständigkeit zeigten, ihr Vermögen weg (darunter eben Medien) und schickte sie ins Exil oder Gefängnis. Oppositionsparteien wurden legislativ und bürokratisch behindert, wo es ging. Kritische Journalisten und Oppositionelle wurden Opfer von Anschlägen oder wanderten ins Gefängnis.

Kaczyński und Orbán unterminierten die unabhängige Justiz – so sehr, dass die EU jetzt Strafmaßnahmen gegen sie setzt. Das war ein jahrelanger, schleichender Prozess, immer gerade so viel, dass es zwar liberale Intellektuelle, aber nicht die Masse der Bevölkerung aufbrachte. Gab es doch Massenproteste wie in Moskau 2011, wurden sie von der Spezialpolizei niedergeschlagen.

Putin griff zu einer verfassungsrechtlichen Farce, als er nach zwei Amtszeiten mit Premier Dmitri Medwedew Ämter tauschte. Inzwischen gab es eine Verfassungsänderung, die Putin bis 2036, also praktisch auf Lebenszeit, im Amt belässt.

Orbán setzte eine Wahlrechtsänderung durch, die ihm eine Zweidrittelmandatsmehrheit sichert. Er gewann zuletzt aber auch so. Trump versuchte schlicht, das Wahlergebnis von 2020 umzudrehen. Zuerst mit völlig absurden Betrugsvorwürfen, dann am 6. Jänner 2021, indem er seine Anhänger zum Sturm aufs Kapitol aufstachelte.

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Er scheiterte, hinterließ aber eine längerfristig gefährliche Erbschaft: einen Obersten Gerichtshof mit reaktionärer Mehrheit, der gerade das Recht auf Abtreibung abschaffen will. Und eine gespaltene Gesellschaft, in der zwei Drittel der republikanischen Wähler die Wahlbetrugslüge glauben.

Schritt 4: Sichern Sie sich die Macht mit Spin! Schaffen Sie "Volksfeinde", führen Sie einen Kulturkampf. Erzeugen Sie politische Lethargie durch Desinformation.

Der russische Ökonom Sergej Guriew, der 2012 von Putin ins Exil gedrängt wurde, argumentiert in seinem neuen Buch Spin Dictators – The Changing Face of Tyranny in the 21st Century, dass neben den "Furchtdiktatoren" wie Assad, Kim Jong-un und Xi Jinping eine neue Variante aufgetaucht sei: die "Spin-Diktatoren", die weniger gewalttätig, dafür aber meisterhaft in Manipulation seien.

Dazu gehört zunächst eine Strategie der totalen Verwirrung. Trumps zeitweiliger Berater Steve Bannon hat das "flood the zone with shit" genannt. Die Formel: Behaupte einfach etwas, ganz egal, ob es wahr oder auch nur ansatzweise plausibel ist. Dass die US-Wahl gefakt war z. B. – oder dass Hitler "jüdisches Blut" hatte. Wiederhole es unablässig, bis ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht mehr weiß, was wahr ist, aufgibt und sich in politische Lethargie flüchtet.

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Viktor Orbán gewann, weil die Leute genug hatten von Misswirtschaft der Sozialdemokraten.
Foto: Reuters / Bernadett Szabo

Putin erzeugt mit seinen Trollarmeen auch im Westen Desinformation und Desorientierung. Eine Mischung aus dreister Lüge und Schaffung eines Außenfeindes ist Orbáns Verteufelung des Philanthropen George Soros, der sich verschworen habe, Europa und Ungarn mit muslimischen Einwanderern zu fluten (die "Umvolkung" bzw. der "Bevölkerungsaustausch" gehört zum Arsenal praktisch aller Autokraten).

Kaczyński beschuldigte "exkommunistische Kader", die Arbeit seiner rechtskatholischen Regierung zu unterminieren; Putin ließ humanitäre Organisationen und die NGO Memorial, die die Stalin-Verbrechen aufarbeitete, zuerst als "ausländische Agenten" bezeichnen, dann verbieten. Erdoğan macht rundum "Feinde des wahren Türkentums" aus.

Ganz wichtig ist die nationalreligiöse Komponente, der Kulturkampf. Orbán und Kaczyński verteidigen ein rein christliches Europa, Putin die russisch-orthodoxe Kirche, deren größte Furcht wiederum ist, dass die Russen gezwungen werden, Gay-Pride-Paraden zu dulden. Mit der Christianisierung der "heiligen" Kiewer Rus vor 1000 Jahren begründet Putin den Anspruch auf die Ukraine. Erdoğan hat einen strengen sunnitischen Islam zur neuen Staatsideologie erhoben. Trump schließlich schloss ein Bündnis mit ultrakonservativen evangelikalen Christen.

Schritt 5: Errichten Sie eine Kleptokratie, aber stellen Sie das Volk mit Sozialleistungen ruhig!

Alle Autokratien sind auch Kleptokratien (Herrschaft der Diebe, Anm.). Schon Jelzin hat zugelassen, dass beim Systemwechsel vom Kommunismus einige Leute unfassbar reich wurden. Putin führte das fort, profitierte selbst, verlangte aber von den Oligarchen Gehorsam und führt – wie Stalin – regelmäßige "Säuberungen" durch, damit niemand zu groß wird.

Donald Trump versprach den weißen Arbeitern und Farmern die alte Vorherrschaft über die Farbigen und den Reichen Steuersenkungen.
Foto: AFP / Chandan Khanna

Putin erzielte seine ersten Wahlerfolge, weil der hohe Ölpreis die Verteilung sozialer Goodies zuließ. Dennoch liegt Russland beim Pro-Kopf-Einkommen im Weltranking etwa auf Rang 60, hinter den exkommunistischen Osteuropäern. Ans Volk verteilt er aber in Abständen Sozialleistungen. Das Referendum für seine Präsidentschaft auf Lebenszeit wurde von der gesetzlichen Einführung regelmäßiger Pensionserhöhungen begleitet (Ja-Stimmen: 78 Prozent).

Orbán führte vor der letzten Wahl Lebensmittelsubventionen ein. Erdoğan mutet den Türken derzeit extreme Preiserhöhungen bei Lebensmitteln zu – weiß allerdings noch nicht, wie er da herauskommt.

Schritt 6: Werden Sie vom Autokraten zum Tyrannen!

Wenn die Kluft zwischen alltäglicher Realität und Propaganda des Regimes zu groß wird, müssen die Schrauben wirklich angezogen werden. Putin ist nunmehr Spin-Diktator und Furchtdiktator. In seinem Reich werden kritische Journalisten ermordet, Oppositionelle wie Alexej Nawalny vergiftet oder ins Lager gesperrt.

Auf Verwendung des Wortes "Krieg" stehen 15 Jahre Gefängnis. Autokraten lassen oft noch einen gewissen Spielraum. Putin und auch Erdoğan, der einen kritischen Unternehmer jetzt zu lebenslanger Haft verurteilen ließ, haben jedoch die Grenze überschritten, wo niemand mehr sicher ist.

Schritt 7: Lassen Sie sich nicht auf riskante Kriege ein!

Eine harte Diktatur kann sehr lange bestehen, es sei denn, der Diktator will auch andere außerhalb seines Landes unterjochen. Faschistische Regime, und zumindest Putins Russland ist eines, fangen zwangsläufig Kriege an, um "Volksgenossen heimzuholen", wenn es im Inland nicht so läuft.

Das kann schiefgehen – und die Herrscher verlieren den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Dann stürzen sie. Nach 1945 etwa der serbische Autokrat Slobodan Milošević nach dem Kosovokrieg oder die argentinische Junta (Falklandkrieg 1982). Putin hat in Tschetschenien, Georgien und auf der Krim Erfolg gehabt. In der Ukraine hat er sich möglicherweise überhoben. (Hans Rauscher, 6.5.2022)