Ewald Nowotny empfängt in einem schlichten Büro in nächster Nähe der Nationalbank. Die Dynamik der derzeitigen Inflation sei kurzfristig kaum zu stoppen, sagt er.

STANDARD: Können die hohen Energiepreise und die Probleme mit Importen aus China zur Deglobalisierung führen? Manche Industrieproduktion wird sich bei diesem Preisauftrieb nie mehr rentieren hier in Österreich ...

Nowotny: Das ist das typische Phänomen dieser Lieferketten: Der Ausfall vergleichsweise kleiner Teile oder Produkte wie der berühmten Kabelbäume hat eine große Wirkung. Das sind eigentlich keine Hightechprodukte, aber wenn sie fehlen, steht alles. Das macht die ganze Frage eines Gasembargos so bedrohlich. Man weiß in Wirklichkeit nicht, was genau die Folgen sein werden, die Risiken gehen ja teilweise bis ins zehnte Glied. Daher kann ich nur warnen: Wir müssen die Situation ernst nehmen.

"Jede neue Nachricht ist eine schlechte Nachricht." Der langjährige SPÖ-Politiker und Gouverneur der Nationalbank, Ewald Nowotny, rät zur Vorsicht.
Robert Newald

STANDARD: Ist das so klar? Da wird das Gespenst einer Massenarbeitslosigkeit gezeichnet, aber konkrete Untersuchungen gibt es nicht ...

Nowotny: Doch, gibt es schon, beispielsweise von der Deutschen Bundesbank ...

STANDARD: Das scheint aber sehr kursorisch zu sein. Reicht das aus als Handlungsanleitung?

Nowotny: Es ist alles kursorisch, weil die vollen Weiterwirkungen empirisch nicht bis in die letzte Verästelung erfassbar sind. Es sind im Prinzip vorsichtige Schätzungen. Das Risiko ist wahrscheinlich größer als gedacht. Für Österreich haben wir vom Wifo Studien, die zeigen, dass es sehr darauf ankommt, wie rasch ein Gasembargo eintritt. Wenn es volle Wirkung entfaltet, wären wir zurückgeworfen wie beim Corona-Schock, das Sozialprodukt würde sinken.

STANDARD: Der Corona-Stillstand dauerte ein Quartal, dann lief die Industrie wieder voll ...

Nowotny: Ja, der Schock währte kurz, weil die Einkommensseite so massiv gestützt wurde mithilfe staatlicher Zuschüsse. Jetzt ist das viel heikler. Denn ich kann zwar die Beschäftigten beim Stillstand eines Stahlwerks über die Kurzarbeit versorgen, das Wiederhochfahren der Anlagen ist aber mit hohen Kosten verbunden. Hinzu kommt, dass die internationale Betroffenheit höchst unterschiedlich ist. Österreich wäre besonders stark betroffen, die USA hingegen praktisch nicht. Europa würde massiv Marktanteile verlieren. Wir sollten deshalb mit großer Vorsicht vorgehen.

STANDARD: Angesichts der Umstände müssten wir sofort ein Riesenhilfspaket schnüren, oder?

Nowotny: Ja, sicher. Nur so kann ich es abfedern. Das Problem ist: Ich kann die Einkommen über das Budget stabilisieren, ich kann aber die Industrieproduktion nicht übers Budget stabilisieren. Dadurch wächst die Kluft zwischen Nachfrage und Angebot, und das ist ein zusätzlicher Inflationseffekt. Ein Gasembargo ist der Worst Case, das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.

"Ich kann Einkommen über das Budget stabilisieren, aber nicht die Industrieproduktion", warnt Nowotny.
Robert Newald

STANDARD: Das Ölembargo ist auf Schiene, das trifft uns, aber nicht so stark wie jenes bei Gas ...

Nowotny: Die bereits hohe Inflation ist kosten- und nachfrageseitig bestimmt, und der Kostendruck wird weiter steigen durch das Ölembargo. Die Schätzungen für die Inflation von Wifo und OeNB gehen beim Gasembargo auf bis zu zehn Prozent. Ohne zusätzliche Störungen gingen wir eigentlich davon aus, dass sich die Inflationsraten im zweiten Halbjahr abschwächen, weil die Kosteneffekte nachlassen. Allerdings haben wir alle gelernt, dass es eine unglaubliche Vielzahl von Risiken gibt.

STANDARD: Chinas Null-Covid-Politik trifft Europa und uns auf so gut wie allen Ebenen.

Nowotny: Die Lockdown-Effekte können massiv sein, wenn die Häfen nicht funktionieren. Jede neue Nachricht ist eine schlechte, zu den Ursprungsrisiken Inflation und Covid-Krise kommen ständig neue dazu: die aus der Krisenpolitik der Notenbanken resultierende Stagflationsproblematik und ein Rückwärtsgang der Globalisierung, der zur Aufspaltung der Welt in Handelsblöcke führen könnte. So kommen wir in eine Spirale hinein. Vor diesem Hintergrund wächst die Bedeutung des EU-Binnenmarkts. Da haben wir eine Chance, deshalb sollten wir ihn stärken.

STANDARD: Auf diesen EU-Binnenmarkt wird China wohl nicht verzichten wollen?

Nowotny: Ja eben. Das verhilft uns zu einer gewissen Machtposition. Aber Peking will seinen eigenen Binnenmarkt stärken, um die Exportabhängigkeit zu verringern. Für Europa heißt das aber: Auf Export und Außenwirtschaft ausgerichtete Geschäftsmodelle sind zu überdenken. Deutschland, das Land mit den weltweit höchsten Exportüberschüssen, wird seine Abhängigkeit von China reduzieren und die Binnennachfrage stärken müssen. Über die Zulieferfunktion ist Österreich mitbetroffen.

STANDARD: Was bedeutet das für Unternehmen? Die Autoindustrie lebt ja auch von China.

Nowotny: Die deutsche Autoindustrie wird sich überlegen müssen, ob das auf lange Sicht sinnvoll ist oder ob sie ihre Absatz- und Bezugsmärkte technologisch diversifizieren kann, vielleicht in Richtung Energiesektor. US-Finanzministerin Janet Yellen hat den Begriff Friend-Shoring geprägt: Ich beziehe meine Produkte nicht von irgendwo, sondern von Freunden.

"Konsumverzicht klingt so freiwillig. Es ist aber ein Zwang zu weniger Konsum", sagt Nowotny.
Robert Newald

STANDARD: Freundschaft hat uns bei Russland gerade in eine eher blöde Situation gebracht.

Nowotny: (lacht) Gemeint sind damit Wirtschaftskreise. Da hat Europa jetzt eine sehr spezielle Problematik, denn naheliegend wäre im eurasischen Raum eine Arbeitsteilung zwischen Technologieproduktion in Europa und Rohstoffbereitstellung durch Russland. Die ist jetzt aber gestört und wird in nächster Zukunft auch nicht wieder auferstehen. Putin macht gerade einen entsetzlichen Fehler, denn er erhöht mit diesem Krieg die Rohstoffintensität seines Landes noch, anstatt stärker in Technologieentwicklung zu gehen. Das ist ein echter Rückschritt. Aber auch Putin wird nicht ewig sein.

STANDARD: Zurück zur Energie. Was sind die Lehren aus der aktuellen Krise?

Nowotny: Die Sicherung der Energieversorgung ist eine genuin staatliche Aufgabe, der Betrieb und die Befüllung der Gasspeicher sind keine rein betriebswirtschaftlichen Angelegenheiten. Es geht um Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Daher wird es eine Reregulierung geben. Die Deregulierung der Finanzwelt seinerzeit hat die Krisenanfälligkeit enorm erhöht. Das spüren wir mit zwanzig Jahren Verspätung nun im Energiesektor.

STANDARD: Kann, soll und darf der Staat die Auswirkungen einer importierten Inflation abfedern?

Nowotny: Die Dynamik der derzeitigen Inflation ist kurzfristig kaum zu stoppen. Aber es muss uns bewusst sein, dass die Inflation soziale Effekte hat. Der Staat hat prinzipiell eine Schutzfunktion, und die hat er primär gegenüber Gruppen mit niedrigen Einkommen, die sich nicht helfen können. Und er hat diese Schutzfunktion so auszuüben, dass speziell niedrige Einkommen entlastet werden. Ich habe große Sympathie für Vorschläge, die in Richtung Entlastung bei der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel gehen – eine vorübergehende Absenkung auf null. Das geht schnell, unbürokratisch und spielt für Haushalte mit niedrigen Einkommen eine große Rolle. Es gibt zwar die Gefahr, dass die Senkung nicht voll weitergegeben wird, aber ich sehe gerade in diesem Bereich einen großen Wettbewerb der Akteure – Stichwort Sonderaktionen im Handel –, sodass ich sicher bin, dass das bei den Konsumenten ankommt. Das würde sofort wirken. Ich bin erstaunt, dass in der Diskussion nichts weitergeht – jetzt, wo die EU den Weg dafür freigemacht hat.

Eine vorübergehende Absenkung der Mehrwertsteuer auf null bei Grundnahrungsmitteln hielte Nowotny für eine gute Idee.
Robert Newald

STANDARD: Nur für Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch, Butter, aber nicht eine generelle Senkung für alle Nahrungsmittel?

Nowotny: Ja. Nicht für sämtliches Essen oder gar für die Mineralölsteuer, da ist der Lenkungseffekt ein anderer. Die Entschärfung der kalten Progression halte ich nicht für zwingend. Eine Wirtschaftskrise ist nie kostenlos! Es ist eine Frage der Verteilung dieser Kosten. Einen Teil trägt der Staat. Aber wer ist der Staat? Das sind die Steuerzahler. Der Staat muss über die Mittel verfügen, diese Abfederungen zu stemmen, diese Mittel müssen von den höheren Einkommen kommen. Genau diese würden von der Abschaffung der kalten Progression am meisten profitieren.

STANDARD: Mit der Unsicherheit kommt der Konsumverzicht. Das wäre kontraproduktiv.

Nowotny: Ich bin allergisch gegen Phrasen wie "Wir werden ärmer." Wer ist wir? Konsumverzicht, das klingt so freiwillig. Es ist aber nicht freiwillig, es ist ein Zwang zu weniger Konsum. Das will ich Alleinerziehenden mit Familie nicht zumuten. Der entscheidende Punkt ist: Eine Krise hat Kosten, und die zweite Frage ist, wie diese Kosten verteilt werden. Und da ist es legitim, soziale Aspekte mitzuberücksichtigen.

STANDARD: Der Staat braucht Einnahmen, die Kosten der Corona-Krise sind noch nicht verdaut. Der SPÖ scheinen Vermögenssteuern nicht mehr ertragreich genug zu sein. Woher soll das Geld kommen?

Nowotny: Wir haben eine massive Ungleichheit in der Vermögensverteilung. Lange Jahre des friedlichen Wachstums haben diese Ungleichheit vergrößert. Es gibt taugliche Beispiele für Vermögenssteuern, etwa in der Schweiz. Darüber hinaus müsste man klären, wie man Liegenschaften besteuert. Das ist politisch vermintes Gelände. Ich halte eine mäßige Erbschaftssteuer für den sinnvolleren Weg, sie ist einfach einzuheben.

Zur Bewältigung der Krisenkosten schlägt Nowotny eine mäßige Erbschaftssteuer vor.
Robert Newald

STANDARD: Politisch nicht weniger vermint.

Nowotny: Aber dort kann ich leichter differenzieren. Eine Erbschaftssteuer betrifft nicht jede Person jedes Jahr, und Freibeträge sind möglich. Wir könnten das unter einem CDU-Finanzminister in Deutschland eingeführte Modell übernehmen. Ohne die Komponente Vermögen einzubeziehen, wird es nicht gehen, die Ansprüche an den öffentlichen Sektor nehmen ja zu: In der ökologischen Wende, in der Energieversorgung, im Bildungssystem, im Gesundheitssystem für eine alternde Bevölkerung – überall ist der öffentliche Sektor gefragt. Statt des dritten Urlaubs auf den Seychellen wird es vielleicht wichtiger sein, ein besseres Krankenbett zu finanzieren. Für diesen Strukturwandel müssen die Finanzen gerüstet sein.

STANDARD: Die US-Notenbank Fed reagiert auf die hohe Inflation mit einem kräftigen Zinsschritt. Was sollten die Geldpolitiker in Europa jetzt vernünftigerweise tun?

Nowotny: Die Kerninflation, das heißt, Inflation ohne Kostenerhöhungen durch Energie und Lebensmittel, in den USA liegt bei 6,5 Prozent, in der Eurozone bei 2,9. In den USA ist es überwiegend eine nachfragebestimmte Inflation in Reaktion auf die extrem expansive Finanzpolitik nach der Finanzkrise. Bei uns hingegen ist die Inflation zur Hälfte, wenn nicht sogar mehr kostenbestimmt, weil Energie teurer geworden ist, weil das Angebot zunächst nicht Schritt gehalten hat mit dem Wirtschaftsaufschwung und jetzt wegen der geopolitischen Entwicklungen. Die drastische Zinserhöhung in den USA ist daher verständlich. Für Europa ist es richtig, dass man hier tendenziell vorsichtiger ist, um die Gefahr einer Stagflation zu vermeiden.

STANDARD: Kann die EZB also nur zuschauen?

Nowotny: Ein wichtiger Punkt ist schon immer die Frage der Einflussnahme auf die Inflationserwartung. Von dieser Seite ist eine gewisse Aktivität sinnvoll. Man muss auch zwischen kurzfristigen und langfristigen Zinsen unterscheiden. Was die Notenbank unmittelbar beeinflusst, sind die kurzfristigen Zinsen. Da war ich auch während meiner aktiven Zeit, was die EZB betrifft, ein Skeptiker gegenüber den negativen Einlagezinsen. Ich glaube, das hatte keinen großen Effekt.

Wenn ich dort eine Erhöhung angehe, wird das keinen massiven negativen Effekt haben. Entscheidend sind die Kapitalmarktzinsen. Und da sehen wir ja jetzt schon, dass die Zinswende voll unterwegs ist. Wir haben hier eine relativ dramatische Entwicklung in relativ kurzer Zeit. Vor einem halben Jahr hatten wir etwa die Hälfte aller zehnjährigen Staatsanleihen mit negativer Verzinsung. Jetzt gibt es praktisch keine Zehnjährigen mehr mit negativer Verzinsung – auch nicht für Österreich, auch nicht für Deutschland. Deren Volumina gingen massiv zurück. Das zeigt sich auch in der Industriefinanzierung, und das wird sich in stärkerem Ausmaß in der Wohnbaufinanzierung zeigen. (Regina Bruckner, Luise Ungerboeck, 7.5.2022)