Alfred Pritz ist international anerkannter Psychoanalytiker und Gründungsrektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Krisen, so betont er, sind ständige Begleiter in unserem Leben.

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Die Gesellschaft lebt im Krisenmodus. Das Klimathema begleitet uns schon lange auf einer abstrakteren Ebene, die Pandemie hat die ganze Welt in eine akute Ausnahmesituation gestürzt. Und seit einigen Wochen eskaliert der Krieg in der Ukraine die Krisensituation weiter. Sie ist sozusagen zum täglichen Geschäft geworden.

Was alle Krisen gemeinsam haben, egal ob es kollektive sind wie die bereits erwähnten oder individuelle wie Beziehungsthemen, Jobveränderungen, Krankheiten oder auch Todesfälle im nahen Umfeld: Sie bringen gravierende Veränderungen im Erleben der Zeit mit sich. Das bringt viele Menschen dazu, ihre Lebensrealität zu hinterfragen und neu zu bewerten, ob sie mit der allgemeinen Situation zufrieden sind.

Diese Tatsache hat die Sigmund-Freud-Privatuniversität dazu veranlasst, den großen Fragen der Zeit eine Online-Vortragsreihe zu widmen. Unter der Klammer "Krise als Daily Business" sprechen international anerkannte Expertinnen und Experten der Psychologie über verschiedene Herangehensweisen und Bewältigungsstrategien, wie man mit der aktuell fast schon zur Normalität gewordenen Ausnahmesituation besser umgehen kann.

Den Auftakt der Vortragsreihe macht am 16. Mai 2022 der österreichische Psychoanalytiker und Gründungsrektor der Sigmund-Freud-Uni Alfred Pritz. Er spricht über Krisen als Begleiter unseres Lebens. Im STANDARD-Interview erklärt er, warum es besser ist, einer Krise mit offenen Armen entgegenzutreten, und wie man die Angst vor der Veränderung überwinden kann.

STANDARD: Wir befinden uns gerade mitten in einer mehrfachen Krise, Corona, Krieg, Klima – aber ist das normal, dass man so viele Krisen auf einmal hat? Das sind ja auch keine individuellen Krisen, sondern welche, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Was bedeutet das? Befinden wir uns in einer globalen Umbruchsituation?

Pritz: Es gab immer wieder große kollektive Krisen im Laufe der Geschichte. Denken Sie etwa an die Pest, die ab dem 14. Jahrhundert mehrmals durch Europa gefegt ist. Beim ersten Mal ist etwa ein Drittel der Bevölkerung gestorben, das war auch eine Pandemie. Oder der 30-jährige Krieg, die Französische Revolution. Man kann die Geschichte als eine Abfolge von Krisen definieren. Und ich möchte mit der Illusion aufräumen, dass es eine Welt ohne Krisen, quasi ein Paradies auf Erden, gibt.

STANDARD: Wie genau wird Krise definiert?

Pritz: Das Wort kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet Trennung. Also Neues trennt sich von Altem – und der Kulminationspunkt ist die Krise. Und wenn sich die Krise nicht lösen lässt oder kann, geht sie über in eine Chronik. Das gilt für körperliche Leiden ebenso wie für soziale oder psychische, überall kann man diese Trennung von Altem hin zu etwas Neuem beobachten. Das ist nicht zwingend negativ. Es gibt ja auch Konflikte, die gut ausgehen.

STANDARD: Und was passiert, wenn man sich in einer Krise befindet?

Pritz: Im Prinzip lösen alle Krisen Angst aus, egal ob es sich um eine kollektive oder eine individuelle Belastung handelt. Das können massive Existenzängste sein, bei einer schweren Krankheit etwa wie einer Krebsdiagnose oder einem Schlaganfall. Diese Existenzängste sind berechtigt, man ist ja hilflos und muss die Krankheit erdulden. Aber es gibt auch Fälle, wo man es übertreiben kann mit den Ängsten, weil ja nicht jede Krise per se existenzbedrohend ist. Und sehr viele gehen auch gut aus.

STANDARD: Was kann man selbst tun, wenn man sich in einer Krise befindet?

Pritz: Es ist immer gut, wenn man sich Handlungsräume eröffnet, egal ob einen die Krise direkt betrifft oder ob es eine gesellschaftliche Veränderung ist. Das passiert zum Beispiel jetzt beim Ukraine-Krieg, wo viele Flüchtlingen helfen. Das hilft, das eigene Unvermögen, etwas an der Situation zu verändern, zu bewältigen. Oder, ganz individuell, wenn man im Job unzufrieden ist und sich etwas Neues sucht. Wenn man in der Lage ist, Handlungen zu setzen, hilft das gegen die eigene Verzweiflung.

STANDARD: Krise bedeutet ja auch Veränderung. Oft ist die Angst davor aber sehr groß, man bleibt lieber im alten, dafür bekannten Modus, auch wenn der wehtut, als sich auf neue, unbekannte Voraussetzungen einzulassen. Wie kann man die Angst vor dieser Veränderung überwinden?

Pritz: Man kann zum Beispiel schauen, dass die Veränderung nicht auf einmal kommt, sondern portionsweise. Man nimmt sich immer nur einen Schritt vor und erst, wenn dieser abgeschlossen ist, geht man den nächsten. Das ist ähnlich wie wenn kleine Kinder gehen lernen. Zuerst ziehen sie sich hoch, nach einer Weile versuchen sie erste Schritte an der Wand, und erst, wenn sie da sicher sind, probieren sie erste freie Schritte. So kann man sich auch an eine große Veränderung herantasten, die noch in weiter Ferne liegt und die einem als Ganzes zu groß erscheint, um sie zu bewältigen. Es gibt natürlich auch die umgekehrte Herangehensweise: Man wagt den Sprung ins kalte Wasser. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Jobwechsel aus einem zwar sicheren Umfeld, das einen aber vielleicht nicht mehr zufriedenstellt, und man stürzt sich einfach in eine neue Herausforderung. Viele beschreiben diesen Sprung als sehr befriedigende Tat in ihrem Leben.

STANDARD: Kann man "lernen", mit Krisen besser umzugehen?

Pritz: Durchaus. Wichtig ist, dass man über schwierige Situationen nachdenkt und reflektiert. So kann es gelingen, zur aktuellen Lage Abstand herbeizuführen. Dadurch gelingt es leichter, aus der Opferrolle herauszutreten, man bekommt die nötige Distanz, um die Situation besser zu bewältigen. Und wie man mit Krisen umgeht, hat übrigens oft auch damit zu tun, was einem vorgelebt wurde – Kinder nehmen sich da unbewusst ein Beispiel an ihren Eltern. Das heißt umgekehrt auch, Eltern können ihren Kindern einen positiven Umgang mit Veränderung vorleben. (Pia Kruckenhauser, 12.5.2022)