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Seit Diktator Lukaschenko die Proteste 2020 brutal niederschlagen ließ, versuchen Belarussinnen im Exil Druck aufzubauen.

Foto: Reuters / David Zuchowicz

Wenn Jelena sich an das Belarus vor 20 Jahren erinnert, werden die Sätze grimm. "Schon damals wusste man, dass man jederzeit umgebracht werden kann." Es ist Montagvormittag, die Sonne scheint über der Wiener Innenstadt.

Jelena hat viel zu erzählen, sie redet seit einer Dreiviertelstunde durch. Wie viele Menschen in dieser Geschichte heißt Jelena eigentlich anders. Aber wer versucht, mit der belarussischen Diaspora in Kontakt zu kommen, der hört immer dasselbe: Man müsse vorsichtig sein, man habe noch Familie zu Hause.

Belarus galt lange als die letzte Diktatur Europas. Platz 153 im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen, acht von 100 Punkten im Freiheitsindex von Freedom House. Ein Polizeistaat, knapp 650 Kilometer von Wien entfernt. Die Protestbewegung im Jahr 2020, die Diktator Alexander Lukaschenko letztlich überstand, hat die Situation verändert.

In Belarus ist das Regime selbst noch repressiver geworden. Aber die Repression hat auch eine Gegenreaktion erzeugt: Die belarussische Community im Ausland organisiert sich. Wenn man so will, sind viele von ihnen eher zufällig zu Oppositionellen geworden.

Innere Distanz

Auch Jelena hat unter dem Regime gelitten, ihre Geschichte aber nie groß erzählt. Als sie ein Kind ist, wird ihr Vater von Milizen umgebracht. Als sie zu einer jungen Frau geworden ist, muss sie die Universität in Minsk verlassen. Sie sei nicht mal besonders politisch gewesen, sagt sie, nur nicht steuerbar.

Sie heiratet einen Österreicher und landet Mitte der Nullerjahre in Wien. Danach ist es lange wie bei vielen anderen Belarussen im Ausland. Sie hält Kontakt nach Hause, aber auch innere Distanz. Sie arbeitet und lebt ihr Leben – bis zum August 2020 und der Präsidentenwahl in Belarus.

Die Geschichte ist im Wesentlichen bekannt: Präsident Lukaschenko, zu dem Zeitpunkt bereits 26 Jahre an der Macht, lässt schon im Vorfeld Oppositionelle verhaften. Das ist alles nichts Neues: Lukaschenko kam 1994 in einer demokratischen Wahl an die Macht, danach gibt es nur noch Scheinwahlen.

Aber 2020 ist es anders. Es gibt so etwas wie Hoffnung. "Vor der Botschaft von Belarus in Wien war eine Schlange, wie ich sie noch nie gesehen hatte", sagt Jelena. Sie habe von so vielen Menschen gehört, die 2020 ihre Stimme abgeben, die das vorher nie getan hätten. Als am 9. August das Ergebnis verkündet wird – 80 Prozent für Lukaschenko –, ist die Diskrepanz zwischen Wahlergebnis und der Wahrnehmung der Menschen so groß wie nie zuvor.

Generalstreik und Folter

Die Stimmung kippt, breite Proteste brechen aus. Am 13. August wird ein Generalstreik ausgerufen, drei Tage später ziehen 200.000 Menschen durch Minsk. Nach anfänglicher Zurückhaltung beginnen die Sicherheitskräfte mit der brutalen Niederschlagung der Proteste. Mehr als 33.000 Menschen werden festgenommen, es gibt zahlreiche Verletzte und mindestens sechs Tote. Vor allem aus dem Isolationszentrum Okrestino in Minsk gibt es furchtbare Geschichten von Gewalt. Amnesty International spricht von "systematischer Folter".

Viele Menschen stolpern in diesen Wochen eher in die organisierte Opposition. Swetlana Tichanowskaja, die die belarussische Opposition aus dem litauischen Exil aus führt, ist gelernte Englischlehrerin und war zuletzt Hausfrau. 2020 tritt sie nur an, weil ihrem Mann Sergej die Kandidatur untersagt wird. Damals sagt sie noch, dass sie "gerne bald wieder bei ihrem Mann und ihren Kindern" wäre. Heute reist und zoomt sie sich um die Welt, damit diese hört, was in Belarus vor sich geht.

Swetlana Tichanowskaja führt die belarussische Opposition aus dem litauischen Exil.
Foto: Imago / Christian Spicker

Auch Valentina hatte nicht geplant, viel Zeit im Widerstand zu verbringen. Die freundliche Frau um die 50, die natürlich auch anders heißt, kam der Liebe wegen nach Wien, schon in den 90ern. Danach hatte sie einen Bürojob und zog einen Sohn groß. Kein Mensch, den man spontan als Revolutionärin einordnen würde.

Die Öffentlichkeit informieren

"2020 hat mich eine Freundin mit auf eine Demonstration genommen", erzählt Valentina. Dort kommt sie in den Kontakt mit anderen aus der Diaspora. Der Austausch intensiviert sich, es entsteht ein Verein ("Belarussische Diaspora in Österreich"). Die Mitglieder unterstützen Familien von politischen Gefangenen finanziell, vernetzen Belarussen weltweit.

Ihre Hauptaufgabe sehen sie darin, die Öffentlichkeit in den Ländern, in denen sie leben, zu informieren und Druck auf die Politik aufzubauen. Speziell Jelena kann wütend werden, wenn man nach ihrer zweiten Heimat Österreich fragt. "Viele Österreicher wissen gar nicht, wie viele Oligarchen aus Belarus – beziehungsweise ihre Familien – es sich hier gemütlich gemacht haben." Österreich ist der zweitgrößte Auslandsinvestor in Belarus.

Neben den prominenten Fällen A1 und Raiffeisen gibt es noch zahlreiche andere Unternehmen, die weiter dort tätig sind: der Baustoffhersteller Kronospan, die Vienna Insurance Group. Die Österreicher sollen das wissen, sagt Jelena. Dem Argument, dass so Arbeitsplätze in einem bitterarmen Land geschaffen werden, kann sie wenig abgewinnen. "Europäische Geschäftsleute nutzen den Totalitarismus, um Geld zu machen."

Innerer Rückzug

Die Koordination der Diaspora läuft über Telegram. Der Messengerdienst gilt oft als Verbreitungsweg für Verschwörungstheorien. Er hat aber auch eine Seite, die oft ein wenig untergeht: Auch gute Menschen nutzen ihn.

Telegram ist oft der einzige Kontakt in die Heimat. "Meine Verwandten konsumieren nur gleichgeschaltete Medien", sagt Valentina. Für viele Bewohner von Diktaturen ist der Rückzug ins Private eine Überlebenstaktik: "Wenn ich mit meiner Mutter rede und Politik anspreche, heißt es sofort: Darüber könne man doch nicht reden."

In Belarus gibt es für Menschen, die sich völlig in die innere Immigration begeben haben, ein geflügeltes Wort. Übersetzt heißt es so viel wie "Mein Haus liegt am Rande des Dorfes". Wer so lebt, kriegt vermeintlich nichts mehr mit – auch nicht, wenn der Nachbar abgeholt wird.

Selbstverleger

Für diese Haltung hat man auch in der Diaspora Verachtung übrig. Ansonsten spürt man aber, wie hin- und hergerissen die Gesprächspartner sind. Zwischen der inneren Distanz zu den Verwandten, aber auch dem Wunsch, sie vor Urteilen von Menschen schützen zu wollen, die nicht wissen, wie das Leben in einer Diktatur ist.

"Lukaschenko hat ein System der Angst aufgebaut", sagt Valentina. Die Bösen in dieser Geschichte seien nicht die einfachen Belarussen, die sich mit 150 Euro im Monat über Wasser halten müssen – sondern der Diktator, seine Clique und Regierungen im Ausland, die das Regime stützen.

Um die Bubble ein wenig zu durchdringen, ist Valentina unter die Verlegerinnen gegangen – mit anderen Belarussen, die sie im Internet kennengelernt hat ("Mit dem Verein hat das nichts zu tun"), gibt sie eine Zeitung heraus. Jeder kann sich die Belarussischen Nachrichten – die wöchentliche Ausgabe hat nur ein paar DIN-A4-Seiten – über Telegram herunterladen und ausdrucken. Danach kann man sie dem Nachbarn ins Postkastl werfen oder zufällig im Bus liegen lassen – ein Konzept aus der Sowjetzeit, um die Zensur zu umgehen.

Ein gemeinsamer Feind

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat auch Auswirkungen auf Belarus. Das Land dient als Aufmarschgebiet für russische Truppen, es werden vermutlich auch Raketen von seinem Staatsgebiet aus abgeschossen. Aber psychologisch gibt es, so furchtbar die Situation auch sein mag, einen Schub.

"Wir haben das Gefühl, dass es nicht mehr nur unser Kampf ist", sagt Jelena. Belarus, die Ukraine, Moldau, Georgien – sie alle hätten in Russland einen gemeinsamen Feind. "Das gibt Kraft." Die Zeit, wo man sich als "Brudervolk" bezeichnen ließ, sind vorbei. Die Belarussen erzählen heute ihre eigene Geschichte.

Wie lange wird sich Lukaschenko noch an der Macht halten können? Die meisten Ausland-Belarussen, mit denen man spricht, geben dieselbe Antwort: solange Putin ihn stützt. Aber Lukaschenko ist 67 Jahre alt und nicht mehr ganz gesund. Und mittlerweile ist es auch nicht mehr undenkbar, dass sein Förderer in Russland sein Amt verlieren könnte.

Die belarussische Diaspora, ob in Österreich oder in Litauen, arbeitet daran, dass das Ende eines der letzten Diktatoren Europas eher früher als später kommt. "Wir bleiben dran", sagt Jelena. "Es gibt keinen Weg zurück." (Jonas Vogt, 9.5.2022)