Jean-Luc Mélenchon, der starke Mann der Linken.

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Es war tief in der Nacht auf Freitag, als die französischen Sozialisten wieder Sozialisten wurden. In einer internen Abstimmung im Pariser Vorort Évry sprachen sich 62 Prozent der erweiterten Parteileitung für die Beteiligung an einer "Volksunion" mit Grünen, Kommunisten und der linksradikalen Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) aus. Die Plattform positioniert sich betont links, verlangt einen höheren Mindestlohn, ein Rentenalter von 60 (heute 62) und "Ungehorsam" gegenüber dem "neoliberalen" Wirtschaftskurs der EU.

Die Sozialisten (PS) nehmen damit Abschied von einem halben Jahrhundert Europa- und Regierungspolitik, wie sie die Präsidenten François Mitterrand oder François Hollande verkörperten. Auch ihre jüngste Präsidentschaftskandidatin Anne Hidalgo hatte sich in ihrer Kampagne nicht als Sozialistin, sondern ausdrücklich als Sozialdemokratin bezeichnet – und erlitt damit Schiffbruch. "Vergessen wir nicht das Resultat, das wir im April erzielt haben – 1,7 Prozent", rief PS-Chef Olivier Faure am Donnerstag den 300 Delegierten in Erinnerung.

Mit diesem Hinweis warb er für die "neue ökologische und soziale Volksunion" unter Führung der Unbeugsamen. Deren Chef Jean-Luc Mélenchon hatte immerhin 22 Prozent der Stimmen erzielt und präsentiert sich als Oppositionsführer gegen den wiedergewählten Emmanuel Macron.

Neuer Europakurs

Die Sozialisten müssen schlucken, dass die Volksunion ein Arbeitsgesetz abschaffen will, das sie 2016 selbst eingeführt hatten, um den Arbeitsmarkt zu liberalisieren. Auch europapolitisch vollzieht die PS einen Kurswechsel, duldet sie doch ausdrücklich die Missachtung europäischer Wirtschafts- und Budgetregeln.

Die euroskeptische Linie der Unbeugsamen prägt die Plattform. Die Sozialisten erreichten erst in letzter Minute die Klarstellung, dass Frankreich keinesfalls aus der EU oder aus dem Euro austreten wolle. Den russlandfreundlichen Kurs Mélenchons versuchten sie mit dem Passus abzuschwächen: "Gegenüber den von Wladimir Putin beschlossenen Gräueltaten verteidigen wir die Souveränität und Freiheit der Ukraine."

Immerhin 38 Prozent der Sozialisten stimmten gegen die von der Parteidirektion ausgehandelte Annäherung an Mélenchon. Vor der Abstimmung gab es im Saal lauten und heftigen Protest des rechten Parteiflügels. Ehemalige Minister wie Bernard Cazeneuve haben bereits den Parteiaustritt erklärt. Auch Hollande überlegt sich den gleichen Schritt. Damit würde eine Parteispaltung wohl unvermeidlich.

"Erzwungene" Entscheidung

Nach jahrelangem Zögern haben sich die Sozialisten nun von der politischen Mitte losgesagt. Gedemütigt in der Präsidentschaftswahl, machen sie nun lieber gemeinsame Sache mit Mélenchon als mit Macron. Letzterem hatten sie im April die Stimme geben müssen, um einen Wahlsieg der rechtsnationalen Marine Le Pen zu verhindern. Der linke Frust über diese "erzwungene" Stimmabgabe geht aber tief. Er führte nun dazu, dass auch moderate Sozialisten wieder klaren Kurs nach links nehmen.

Ob dies die Parlamentswahlen entscheiden kann, scheint unsicher. Bisher gaben die Franzosen einem frischgewählten Präsidenten stets eine Mehrheit in der Nationalversammlung auf den Weg. Macron ist zwar unpopulär, laut einer ersten Umfrage könnte sein Lager aber die Mehrheit in der 577-köpfigen Nationalversammlung behalten.

Durch das Mehrheitswahlrecht braucht es allerdings für einen Umschwung zugunsten der Opposition nur wenig. Deshalb erneuern auch die Macronisten ihre Koalition von 2017: Ihre Bewegung "En marche" heißt nun "Renaissance" (Wiedergeburt) und hat neue Partner gefunden.

Keine Chance für die Rechte

Wenn die Linksunion siegt, müsste Macron wohl oder übel Mélenchon zu seinem Premier ernennen. Das wäre politisch wie charakterlich eine explosive Kombination, die das Regieren in Paris rasch verunmöglichen könnte. Viele dürften deshalb zögern, der Linken die Stimme zu geben.

Die Rechte, die bei den Präsidentschaftswahlen auftrumpfte, hat wegen des Wahlrechts keine Chancen auf den Wahlsieg. Da Le Pen nicht einmal mit ihrem Gesinnungsgenossen Éric Zemmour eine Allianz eingeht, dürfte ihr Rassemblement National in der neuen Nationalversammlung nur eine Handvoll Sitze ergattern. (Stefan Brändle aus Paris, 6.5.2022)