Im Gastkommentar antwortet einer der Erstunterzeichner des "Emma"-Briefes, Politikwissenschafter Wolfgang Merkel, den Kritikerinnen und Kritikern. Den Gegenbrief zählt er zu den "Reaktionen, die Hoffnung machen".

Waffenlieferungen an die Ukraine? Standpunkte dagegen und der Ruf nach Besonnenheit lösten eine Debatte aus.
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Was haben die Flüchtlings-, Corona-, Klimakrise und der Krieg in der Ukraine gemeinsam? Es sind die Muster, die die Debatte über diesen Krieg begleiten. Sie gleichen sich fatalerweise – zumindest und besonders in Deutschland. Es dauerte nicht lange, da bildeten sich unter den Scheinwerfern der Öffentlichkeit unterschiedliche Meinungslager. Befestigt wurden sie durch Sprecher, Politiker, Intellektuelle und Medien, die Zugbrücken hochgezogen, die Verständigungsorientierung eingestellt.

"Der Diskurs folgt nun wieder dem nur allzu deutschen Muster von Freund und Feind."

Der Zement, der diese Lager zusammenhält, ist die Moral, die sich rasch zu einer Hypermoral stilisiert und im Moralismus endet. Moralismus ist nicht Moral. Es ist der ostentative Überschuss einer moralischen Egozentrik, die neben sich keine anderen "Götter der Moral" duldet. Die Kontroverse spitzte sich zu. Es ging sehr schnell nicht mehr darum, dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zu folgen. Es ging darum, recht zu haben: Zwischentöne unerwünscht! Der Diskurs folgt nun wieder dem nur allzu deutschen Muster von Freund und Feind. Der umstrittene Verfassungstheoretiker Carl Schmitt, "Kronjurist" des Dritten Reichs, lässt grüßen.

Diesem Muster folgt auch die öffentliche, veröffentlichte und vor allem unsoziale Debatte in den sozialen Medien. Mitten in diese Diskussion platzte nun vor zehn Tagen ein "offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz". Er wurde unterschrieben von 28 Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftern – unter ihnen die Feministin Alice Schwarzer, der Dichter Martin Walser, die Schriftstellerin Juli Zeh, der Schauspieler Lars Eidinger und der TV-Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar. Auch der Autor dieser Zeilen gehört zu den Erstzeichnern. Der Brief machte Furore, verbreiterte das Meinungsspektrum, vertiefte aber auch und entgegen der Absicht der Autorinnen und Autoren die Unversöhnlichkeit der Reaktionen.

Es sind drei Grundgedanken, die dem Brief seine normative Gestalt geben. Erstens: "Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen". Zweitens: Es gibt Grenzlinien des unverbrüchlichen Völkerrechts, sich gegen brutale Aggression zu wehren. Eine liegt darin, kein "manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen". Und drittens: Eine weitere "Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung".

Keine Ratschläge

Damit war gewiss nicht gemeint, der ukrainischen Regierung von außen, schon gar nicht aus Deutschland, schlechte paternalistische Ratschläge zu geben. Es war der Verweis, in jedem Lehrbuch der politischen Ethik zu finden, dass es moralische Normen mit universeller Gültigkeit gibt, die auch jede legitime Regierung im Sinne der Verhältnismäßigkeit ihres Handelns zum Schutze ihrer eigenen Regierung in Rechnung zu stellen hat.

Der Brief erweiterte die Debatte. Die öffentlichen Medien und etablierten Parteien reagierten in der Mehrheit ablehnend, bisweilen auch polemisch oder mit eigenwilligen Zitatverfälschungen. Aber es gab auch Ausnahmen wie etwa jene des ehemaligen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet oder des christdemokratischen Ministerpräsidenten Sachsens Michael Kretschmer, die dem Brief zustimmten. Twitter, aber auch ad personam gerichtete E-Mails beförderten die niedrigen Instinkte mancher verbalen Heckenschützen. Die Spitze bisher war eine mit Klarnamen unterzeichnete E-Mail an den Hamburger Strafrechtslehrer und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel: "Sehr geehrter Herr Merkel, Sie sind ein erbärmliches Arschloch und ich hoffe, es gibt einen Ukrainer, der Ihnen ein Loch in den Kopf schießt. Mit freundlichen Grüßen."

Der Gegenbrief

Aber es gab auch andere Reaktionen, die Hoffnung machen. So ein zweiter offener Gegenbrief. Er ist angenehm unpolemisch und wurde in einer zum Nachdenken anregenden Form verfasst. Die beiden wichtigsten Unterschiede sind: Das Risiko eines Atomkriegs soll unsere legitimen politischen Reaktionen nicht beeinflussen, da darüber allein Wladimir Putin bestimmt, gleichgültig wie der Westen sich verhält. Darüber hinaus dürfe die Ukraine den Krieg nicht verlieren, und Putin müsse schon deshalb bestraft werden, um ein Exempel zu statuieren, die ihn oder andere Diktatoren in Zukunft vor solch flagranten Aggressionen und Kriegsverbrechen abhalten.

Ich teile nicht die Ansicht, dass die Reaktionen des Westens ohne Einfluss auf Putins Kriegsführungen sind. Man kann auch meines Erachtens nicht einerseits die friedliche Nutzung der Kernkraft ablehnen, weil die Schadenswahrscheinlichkeit zwar sehr gering, aber das Schadensausmaß verheerend sei; andererseits dieselbe Maxime für einen Nuklearkrieg nicht gelten lassen, insbesondere dann, wenn ein Diktator mit dem Rücken an der Wand sich seinem eigenen politischen und physischen Untergang entziehen will.

Schwierige Fragen, die wir in einem verständigungsorientierten Diskurs erörtern müssen. Wir müssen nicht übereinstimmen. Aber wir sollten endlich den verhängnisvollen Pfad verlassen, der anderen Meinung deshalb die Existenzberechtigung abzusprechen, weil sie nicht unseren Moralvorstellungen entspricht. Wenn das nicht gelingt, rutschen wir weiter ab auf der schiefen Ebene des Architekten Schmitt. Aus der nervösen würde eine innerlich verfeindete Republik. Das können und dürfen wir nicht wollen. (Wolfgang Merkel, 8.5.2022)