Der Bahnhof von Lwiw, das zumindest vorerst noch sichere Ziel für Kranke und Verletzte, die mit dem Zug aus dem Osten evakuiert werden müssen.

Foto: AFP / Genya Savilov

Tabus gibt es nicht mehr – auch nicht, wenn es um Verwundete, Kranke, oder Alte geht. Ukrainische Spitäler sind längst Ziele der russischen Angreifer. Und je länger dieser Krieg dauert, desto schwerwiegender die Folgen für das Gesundheitssystem: Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO hat Russland in diesem Krieg bereits mindestens 274 Spitäler und Gesundheitszentren beschossen. Mehr als ein Dutzend wurden komplett zerstört. Die medizinische Versorgung ist vor allem im Osten der Ukraine zusammengebrochen, und das gleich aus mehreren Gründen: weil Spitäler flachgebombt oder systematisch geplündert wurden; weil der Nachschub an Medikamenten nicht durchkommt; und vor allem auch, weil das medizinische Personal geflohen ist.

Was mit Medizinern passieren kann, zeigt das Schicksal der Sanitäterin Yulia Paevsku: Sie war am 16. März in Mariupol von russischen Einheiten gefangen genommen worden. Bis heute ist sie nicht wieder aufgetaucht. Sie war als Sanitäterin tätig und hatte vor allem auch Militärs behandelt. Auf Gefangenenlisten, die zwischen der Ukraine und Russland ausgetauscht werden, war sie nie aufgetaucht. Und Angriffe auf Mediziner in von Russland besetzten Gebieten, die gibt es oft.

Keine Möglichkeit zur Flucht

Dabei sind es vor allem bettlägerige Menschen, die gerade jetzt noch in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine feststecken, die nie die Chance hatten zu fliehen. Und das sind sehr oft eben auch Menschen, die kontinuierliche medizinische Versorgung benötigen.

Es ist eine intensive Tour, die Stig Walravens hinter sich hat: Zwei Tage waren es, zwei Tage in einem Zug von Lwiw in den Osten und dann wieder zurück in den Westen des Landes in einem Zug voller Verwunderter. Der 33-jährige Belgier ist Notfallmediziner aus Gent. Derzeit aber ist er auf Achse in einem der zwei Züge, die Ärzte ohne Grenzen (MSF) in der Ukraine im Einsatz haben. Einer davon ist eher für leichter Verwundete; der zweite, hier ist Walravens tätig, ist für schwere Fälle.

Der Zug ist eine mobile Intensivstation. Allerdings mit Einschränkungen. "Wir haben zwar Intensivkapazitäten an Bord, aber das ist letztlich ein Zug, das ist kein Spital", erklärt Walravens. So können etwa künstlich beatmete Personen nicht transportiert werden. Intubation ist im Notfall aber möglich.

Angriffe auf Bahntrassen

Das bringt eine heikle Auswahl mit sich, die die Mediziner vornehmen müssen: Wen kann man mitnehmen? "Da gibt es Limits", räumt Walravens ein, vor allem gebe es ein Kriterium: "Die Patienten müssen stabil sein."

Und große Limits gibt es mittlerweile auch. Erst diese Woche griffen die Russen Bahninfrastruktur in Lwiw an, das hat sich auch direkt auf die Arbeit von MSF ausgewirkt. Getroffen wurden Umspannwerke der Bahn, es kam zu Verspätungen. Angriffe auf Bahnhöfe oder Bahntrassen gab es bereits mehrmals. Und getroffen wird dabei immer eines: eine Hauptversorgungsader der Evakuierung von Zivilisten von Ost nach West.

Die Bahn war immer eines der wichtigsten Verkehrsmittel in der Ukraine, mit einem gut ausgebauten Netz und Verbindungen kreuz und quer durchs Land. Dieser Tage ist sie eine Art Überlebensnetz – für die Evakuierung von Zivilisten allgemein, aber eben auch für den Transport von Patientinnen und Patienten.

"Humanitärer Blutkreislauf"

"Da sind chronisch Kranke, da sind Traumapatienten, da sind Verwundete", erzählt Stig Walravens. Ein Großteil der Patienten an Bord seien Verwundete gewesen, schildert er den letzten Transport. Er erzählt von offenen Knochenbrüchen, Quetschungen, Brustkorb- und Bauchverletzungen. Sie alle hätten eine Erstversorgung im Osten erhalten und seien dann transferiert worden. Ansonsten handle es sich aber auch um Schlaganfallpatienten, immobile Personen oder Alte.

Die Risiken, dass die Bahn als "humanitärer Blutkreislauf" der Ukraine jetzt zum Ziel wird, wiegelt er ab. Auszuschließen sei nichts, das Risiko, direkt getroffen zu werden, nennt er aber eher gering. Ganz einfach aufgrund der Größe des Landes. Das Risiko sei eher, dass der Zug aufgrund beschädigter Trassen zum Stehen komme. "Und da kann man dann nicht wissen, wie lange man an einem Ort mitten im Nichts stecken bleibt." Ein Vorrat an den wichtigsten medizinischen Gütern ist zwar an Bord; "aber das eine wird schneller auslaufen als das andere – und irgendwann einmal werden dann Wasser und Nahrung zum Thema."

So weit gekommen ist es zum Glück noch nie. Und das wohl auch, weil MSF eine peinlich genaue Abstimmung zwischen allen Parteien in einem Konflikt pflegt. Walravens: "MSF spricht immer mit allen Seiten." Und dennoch gilt auch für den Zug von MSF, was für alle Züge in der Ukraine gilt: gedimmtes Licht bei Nacht, geschlossene Vorhänge.

Nicht mehr erreichbare Städte

Denn was passieren kann, wenn alle Tabus fallen in einem Krieg – das hat ein Angriff in Kramatorsk in der Ostukraine Mitte April bereits bewiesen: 50 Menschen, allesamt Zivilisten, starben bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof. Der war zum Zeitpunkt des Angriffs voll mit Menschen, die versucht hatten, aus der Region zu kommen – per Zug.

Kramatorsk und Slowjansk waren während des andauernden Krieges in der Ostukraine seit 2014 die Verkehrshubs in die Region; und die Nadelöhre in diesen Hubs waren die Bahnhöfe. Jetzt sind die beiden Städte für die MSF-Züge nicht mehr zu erreichen – geschweige denn die Regionen unter Kontrolle der russischen Armee. Derzeit tingelt der Zug zwischen Lwiw und Dnipro sowie Saporischschja. Sie sind jetzt die Metropolen hinter der Front.

Und was, wenn diese beiden Großstädte auch angegriffen werden? Sollten die Spitäler dort evakuiert werden müssen, so sagt Stig Walravens, dann werden die Spitäler in Lwiw das nicht mehr allein bewältigen können. (Stefan Schocher, 6.5.2022)