Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer beschreibt im Gastkommentar drei Szenarien, wie der Ukraine-Krieg ausgehen könnte.

Meteorologisch schickt sich der Frühling an, in Europa Einzug zu halten. Politisch droht dem europäischen Kontinent allerdings der Rückfall in die eisigste Zeit des Kalten Krieges.

Mit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine endete nicht nur eine lange Friedensperiode in Europa, sondern auch jene europäische Staatenordnung, die auf ihr beruhte. Eigentlich geschah dies aber nicht erst jüngst, am 24. Februar 2022, sondern lange zuvor mit der Eroberung und Annexion der Krim durch Russland 2014 und in deren Gefolge mit dessen Krieg im Donbass. Seit sechs Jahren also wird im Osten der Ukraine gestorben und versucht, einen souveränen Nachbarstaat territorial quasi zu "filetieren", indem man Provinz für Provinz abtrennt. Und all dies unter den Augen der Weltöffentlichkeit.

Seitdem existierte die europäische Friedensordnung nur noch auf dem Papier und dank der Illusionen der Westeuropäer über die Absichten der russischen Politik. Statt einer für alle Staaten auf dem europäischen Kontinent geltenden Ordnung, die auf der Unantastbarkeit der Grenzen beruhte, trat fortan wieder eine für immer überwunden geglaubte Form der europäischen Großmachtpolitik, die auf Gewalt und einseitig reklamierten Einflusszonen beruhte.

Mit dem Frieden in Europa ist es vorbei. Staaten rüsten auf, überlegen, der Nato beizutreten: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: EBF / MACRO ECONOMICS

Reale Gefahr

Der große Krieg als reale Gefahr und Bedrohung war damit zurück auf dem europäischen Kontinent, und darauf waren die Europäer nicht vorbereitet – weder politisch noch militärisch und schon gar nicht mental. Wir wissen heute noch nicht, wann und vor allem wie dieser Angriffskrieg Wladimir Putins enden wird, aber bereits heute sind drei Optionen aus dieser Rückkehr alteuropäischer Machtpolitik in Europa absehbar:

  • Entweder setzt sich Russland militärisch durch, und die Ukraine wird als selbstständiger, souveräner Staat verschwinden. Zurück wird dann die reale Frage bleiben, welcher Nachbar das nächste Opfer sein wird. Moldau? Georgien? Oder gar Nato-Staaten wie die baltischen Republiken oder Polen? Und damit eine Eskalation des Krieges in der Ukraine hin zu einem großen, gesamteuropäischen Krieg mit dem ernsthaften Risiko der nuklearen Dimension. Das demokratische Europa als Ganzes wäre bedroht.
  • Oder aber die zweite Option, dass Putin die Ukraine selbst mit brutalen militärischen Mitteln nicht niederzwingen kann. Es gelingt dem Land unter großen Opfern, dank des Muts seiner Bevölkerung und Armee sowie der Waffen- und Finanzhilfe des Westens als souveräner Staat zu überleben und die russische Aggression zu stoppen. Die Ukraine hätte nicht verloren und Putin nicht gesiegt.
  • Die dritte Option bestünde in einem Waffenstillstand auf der Grundlage eines Kompromisses, der gegenwärtig angesichts der von der russischen Armee verübten Kriegsgräuel aber nicht absehbar ist. Die Option mit Putins Sieg wäre gewiss die risikoreichste aus europäischer und westlicher Sicht, aber in allen drei Fällen gäbe es keine Rückkehr zu einem Status quo ante mehr. Frieden setzt Vertrauen voraus, und wie dieses wiederhergestellt werden soll, solange Putin an der Macht ist und Russland nicht den Weg zu einer ernsthaften Demokratisierung gefunden hat, ist nicht vorstellbar.

Die europäische Ostgrenze bliebe für lange Zeit eine militärische Bedrohungsgrenze, inklusive einer allfälligen nuklearen Erpressung seitens der Nuklearmacht Russland. Auf diese nukleare Erpressung seitens Russlands wird Europa mit einer eigenen nuklearen Abschreckungsstrategie antworten müssen, über die es heute nicht verfügt. Allein an dieser Frage wird das Ausmaß des gegenwärtigen Zeitenbruchs für Europa klar sichtbar. Nach Putins Angriffskrieg wird es den Europäern vor allem um die Stärkung ihrer Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit gehen müssen, so lange wie möglich verstärkt im Nato-Verbund, aber nach der Erfahrung mit US-Präsident Donald Trump in äußerster Not auch allein.

"Das Verhältnis zwischen der EU und der Nato wird unter dem Druck der Ereignisse sehr viel enger werden."

Man sollte sich keine Illusionen machen, aber durch Putins Zerstörung der europäischen Friedensordnung ist auf längere Sicht der Kalte Krieg in Europa zurück, mit all seinen politischen Risiken, Rüstungswettläufen und der immerwährenden Gefahr seines Umschlagens in einen heißen Krieg. Für die EU wird dieser Bruch in der europäischen Geschichte tiefgreifende und weitreichende Veränderungen mit sich bringen, sie wird sich unter dem Druck der militärischen Bedrohung durch Putins Russland zu einem geopolitischen Akteur mit einer starken militärischen Abschreckungsfähigkeit transformieren müssen, ohne ihre traditionelle Stärke als gemeinsamer Markt und Rechtsgemeinschaft aufzugeben. Technologisch wird sie ebenfalls ihre Anstrengungen vervielfachen müssen. Ihr "Schwerpunkt" wird aus demselben Grund Richtung Osteuropa verschoben werden.

Das Verhältnis zwischen der EU und der Nato wird unter dem Druck der Ereignisse sehr viel enger werden, ebenso die Beziehungen zwischen Washington und Brüssel, denn was hätte Europa nach Putins Angriffskrieg ohne die US-Militärmacht getan? Wohl wenig bis nichts. Der militärische Schutz Europas durch die USA bleibt noch lange unverzichtbar, aber umso mehr müssen die Europäer alle Anstrengungen unternehmen, um ihren Sicherheitsbeitrag zu erhöhen.

Europa steht vor eisigen und gefährlichen Jahrzehnten. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 9.5.2022)