Philipp Ther, Masha Gessen, Eric Frey, Karolina Wigura und Claudia Gamon (v. li.) im Burgtheater.

Foto: Robert Newald / STANDARD

"Don’t stop believing", tönte es am Sonntagvormittag vor dem Wiener Burgtheater beim Wings for Life Run. Im Theater selbst begann kurz darauf eine Diskussionsveranstaltung mit dem Titel "Kann Europa Frieden schaffen?" – und auf der Bühne wurde durchaus Hoffnung vermittelt.

EU-Abgeordnete Claudia Gamon (Neos) zeigte sich etwa "positiv überrascht von der Entschlossenheit der EU" kurz nach Beginn der russischen Offensive. Denn wie in der Union Entscheidungen fallen, sei eigentlich "grundsätzlich fehlerhaft" und nicht mehr zeitgemäß: "Wir können nicht so schnell reagieren, wie wir sollten", kritisierte Gamon bei der vom STANDARD, dem Wiener Burgtheater, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und der Erste Stiftung veranstalteten Diskussion.

Osteuropa-Historiker Philipp Ther wandte ein, dass sich nun bereits Risse zeigen würden: Nachdem die ungarische Parlamentswahl geschlagen war, hielt etwa Premier und Wahlsieger Viktor Orbán seine Kritik an der Ukraine nicht mehr zurück. Ungarn und andere Ländern fordern auch jetzt Ausnahmen bei dem von der EU geplanten Ölembargo.

Die Diskussion im Stream.
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Öl- und Gasembargo gefordert

Gamon stimmte im EU-Parlament für ein Öl- und Gasembargo – und erntete vor allem aus der österreichischen Industrie negative Reaktionen. "Doch wir verkalkulieren uns, was das ökonomische Risiko eines wirklich langen Krieges betrifft", ist Gamon überzeugt.

Masha Gessen, russisch-amerikanische:r Journalist:in und Schriftsteller:in, kritisierte die EU für ihr Zögern. Ziel müsse sein, die russische Aggression nicht zu unterstützen – und dazu gehöre nun einmal ein Öl- und Gasembargo, "und zwar eines, das nicht erst in sechs bis acht Monaten in Kraft tritt". Den Einwand "Das ist nicht möglich" lässt Gessen nicht gelten: "Es ist schwierig und teuer. Aber es ist nicht unmöglich."

Auch die weitaus geringere Abhängigkeit der USA von russischem Öl und Gas, die Moderator und leitender STANDARD-Redakteur Eric Frey einbrachte, ist für Gessen keine ausreichende Erklärung: Auch für die USA seien Risiken im Spiel, weil Russlands Staatschef Wladimir Putin ein Embargo als "kriegerischen Akt" interpretiert. "Ich würde die Auswirkungen für die USA, diese Position zu beziehen, nicht unterschätzen."

Militärische Hilfe

Was militärische Unterstützung der USA für die Ukraine betreffe, handle es sich um ein ständiges Abwägen, wie man Russland nicht zu sehr provoziere, damit der Krieg sich nicht auf andere Länder – Nato-Mitglieder – ausbreite. Gessen bezeichnete die Debatte dazu als "moralisch abscheulich", da es im Prinzip darum gehe, eine Situation aufrechtzuerhalten, "in der nur Menschen in der Ukraine sterben." Damit würde der Wert eines Lebens in Nato-Staaten und Nicht-Nato-Staaten unterschiedlich bewertet.

Historiker Ther stellte die öffentliche Diskussion über militärische Hilfe insgesamt infrage: "In der EU debattieren wir über jeden einzelnen Panzer", der Balkankrieg etwa sei aber geheim gewonnen worden. "Was wir öffentlich debattieren sollten, ist Sicherheit."

Sicherheit – und die Angst, sie zu verlieren – spiele in Polen eine große Rolle: Das Land habe eine dominante, kollektive Angst davor, dass der Krieg auf Polen übergreife, sagte die Warschauer Soziologin Karolina Wigura, "während sich der Westen vor der Rückkehr des Weltkriegs auf dem europäischen Kontinent fürchtet". Das Ziel sei aber das gleiche: "dass die EU überlebt und die Werte geschützt werden – auch in der Ukraine".

Kompromiss mit Russland

Was einen baldigen EU-Beitritt der Ukraine betrifft, bremste Neos-Abgeordnete Gamon: Sie sehe zwar Möglichkeiten, was einen beschleunigten Kandidatenstatus betreffe, weiter ging sie bei der Diskussion aber nicht. Osteuropa-Historiker Ther wünschte sich bei Beitrittsprozessen mehr Fokus auf Gewaltenteilung und Medienvielfalt.

Pessimistisch äußerten sich sowohl Ther als auch Journalist:in Gessen in Bezug auf einen Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine, "auch weil die Ziele Moskaus sich immer wieder verändern", sagte Ther. Falls es zu einer Verhandlungslösung komme und "Putin in irgendeiner Form eine Niederlage erfährt", warnte Gessen vor einer Reaktion des russischen Staatschefs gegen die eigene Bevölkerung, "die wir so noch nicht gesehen haben". Sollte der Krieg tatsächlich in einer russischen Niederlage enden, "wird die Russische Föderation in ihrer derzeitigen Form nicht überleben", gab sich Gessen überzeugt.

Frage der Schuld

Wenn Russland nach dem Krieg zu einer Form europäischer Identität zurückkehren wolle, wendete Soziologin Wigura ein, müsse es eine Verantwortung und Definition russischer Schuld geben – kollektive, nationale Verantwortung dafür, was passiert sei. Für diese Überlegungen sei es zwar noch früh, doch auch die EU "würde es ohne Vergebung für vergangene Grausamkeiten nicht geben".

Was soll nun aber kurzfristig passieren? EU-Abgeordnete Gamon wünschte sich eine Veränderung in der Union in Richtung eigenständiger Sicherheitsarchitektur sowie eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, wenn es um Außenpolitik geht. Sie befürchtete, dass einzelne Länder sich Russland wieder annähern könnten, wenn genug Zeit vergangen sei – auch Österreich. "Aber ich glaube, die Mehrheit würde das Richtige tun."

Autor:in Gessen ließ sich keine Empfehlungen für Regierende in den USA entlocken: Denn wann immer solche Zurufe aus dem Journalismus kämen, würden sie erst recht nicht umgesetzt. (Noura Maan, 8.5.2022)