Kanzler Karl Nehammer, Präsident Alexander Van der Bellen sowie Israels Botschafter Mordechai Rodgold bei der Shoah-Gedenkmauer.

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Die Gegenwart ist immer irgendwie auch Vergangenheit und Zukunft. So nahm am Sonntag beim Gedenken an das Kriegsende in Österreich und die Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945, also vor 77 Jahren, auch der Krieg in der Ukraine breiten Raum ein. Dass der russische Botschafter in Wien, Dmitri Ljubinski, explizit nicht zum offiziellen Festakt der Regierung im Kanzleramt geladen war, hatte schon im Vorfeld der Veranstaltung für Aufregung gesorgt: Die "unfreundlichen Aktionen der österreichischen Behörden" hätten "eine Fortsetzung gefunden", hieß es vonseiten der russischen Botschaft.

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) betonte in seiner Rede, dass von vielen Österreicherinnen und Österreichern das Kriegsende nicht als Befreiung empfunden worden sei. "Es gab Opfer, und es gab Täter", sagte Nehammer. Österreichs Pflicht und Aufgabe sei es, sich mit den Gräueln und Schrecken des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Nun würde sich "der Wahnwitz des Krieges" in der Ukraine fortsetzen. Es gelte, alles zu tun, um Kriege zu vermeiden oder diese zu beenden.

Kanzler Karl Nehammer bei seiner Rede anlässlich des Festakts im Kanzleramt.
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Trauer mischt sich in die Freude

Bundespräsident Alexander Van der Bellen bekräftigte in seiner Festrede auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg, Friede und Freiheit müssten immer weiter erkämpft, gehütet und bewahrt werden. In die Freude um das Fest mische sich heuer wieder ein Gefühl der Trauer. Nicht weit weg, in der Ukraine, herrsche in Europa wieder ein Krieg, ein albtraumhafter Schrecken. Unser aller Menschenpflicht sei es, die Augen hier nicht zu verschließen und zu helfen.

Wenn Friede und Freiheit bedroht seien, brauche es Entschlossenheit, Mut und politischen Widerstand. Das sei nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus wichtig gewesen. Es müsse überall angesetzt werden, wo begonnen werde, Freiheit und liberale Demokratie zu unterminieren: "Es heißt nicht umsonst, wehret den Anfängen." Als positiv wertete das Staatsoberhaupt, dass Österreich heute ein Land sei, das die damals Vertriebenen und ihre Nachkommen willkommen heiße, auch wenn es lange gedauert habe, die Verantwortung für das NS-Regime anzunehmen.

Gedenken an alliierte Streitkräfte

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erinnerte daran, dass einst auch ukrainische Städte Opfer des Vernichtungsfeldzugs der Nazis gewesen seien. In diesen Tagen denke man auch an die Soldatinnen und Soldaten der alliierten Streitkräfte sowie die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer. Kogler sprach von einem "weltweit erkämpften militärischen Erfolg über die deutsche Wehrmacht und den Nationalsozialismus". Die aktuelle russische Invasion in der Ukraine verurteilte er scharf: Das Vorgehen von Russlands Präsident Wladimir Putin in der Ukraine bezeichnete Kogler als einen "brutalen, völlig unrechtmäßigen Angriffskrieg".

Vor dem Festakt kam es bei der Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte im Ostarrichipark zu einer Kranzniederlegung. Neben Nehammer, Van der Bellen und Kogler nahmen auch Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) und Oskar Deutsch, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, teil.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Kanzler Karl Nehammer bei der Kranzniederlegung vor der Shoah-Gedenkmauer.
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Mehrere Kränze lagen am Sonntagnachmittag auch vor dem Heldendenkmal der Roten Armee am Schwarzenbergplatz. Bei zwei Kränzen dominierten Blumen in den Farben Blau und Gelb, auf einer Schleife stand zu lesen: "Von der Botschaft der Ukraine in Wien". In den vergangenen Jahren hatte die russische Community in Wien auf dem Schwarzenbergplatz ihren "Marsch des unsterblichen Regiments" abgehalten. Diesmal stand der Platz im Zeichen der ukrainischen Diaspora.

Bei zwei Kränzen im Vordergrund dominierten Blumen in den Farben Blau und Gelb. Hinter dem sowjetischen Heldendenkmal wurde bereits knapp nach Kriegsbeginn eine ganze Mauer in den ukrainischen Nationalfarben bemalt.
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Bereits rund um Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung Wiens hatten ukrainische Diplomaten am 13. April Präsenz am Platz gezeigt. Am Sonntag fand ein Aktionstag unter dem Motto "Tag der Befreiung: Gedenken statt Paraden" mit Reden und Videobotschaften statt, der am 9. Mai seine Fortsetzung finden sollte. Mit Kreide wurden auch Botschaften auf den Boden geschrieben: "Stop Genocide Ukrainian People", schrieb ein Teilnehmer.

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Der russische Botschafter Ljubinski hatte im Vorfeld Kranzniederlegungen am Schwarzenbergplatz und auf dem Zentralfriedhof angekündigt. Dmitri Jerochin, Chef des Koordinationsrats der Organisation russische Landsleute (KSORS), kündigte laut APA für den 9. Mai ein Erinnerungskonzert sowie einen "Marsch des unsterblichen Regiments" auf dem Stephansplatz an.

Gedenken auch in Moskau

Russlands Hauptstadt Moskau hat sich indes fein herausgeputzt: überall Fahnen und Flaggen, nicht nur an den öffentlichen Gebäuden. Seit Tagen wird geprobt. Der 9. Mai ist einer der höchsten russischen Feiertage: die Kapitulation der Hitler-Wehrmacht, der Sieg über Nazideutschland im Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird.

Russland gedenkt 27 Millionen Toter. Es geht um den Sieg über die Nazis – und das hat die Sowjetunion nach neuerer, russischer Geschichtssicht so gut wie allein geschafft.

Die Corona-Zahlen sind in Moskau erfreulich niedrig. Und so paradieren zum 77. Jahrestag 11.000 Soldaten über den Roten Platz, rasseln die Panzer, rollen die Lafetten mit den Langstreckenraketen. Westliche Diplomaten und Ehrengäste bleiben diesmal aber fern.

Warten auf Putins Ansprache

Mit Spannung wird jedenfalls die Rede von Wladimir Putin erwartet: Einmal mehr wird der russische Präsident wohl beklagen, dass der ruhmreiche Sieg der Sowjetarmee heute im Westen in den Schmutz gezogen werde. Und es wird Verbalattacken gegen die Nato und die USA geben. Und Putin wird und muss wohl auch einen Sieg verkünden. Doch welchen? Im Donbass, so scheint es, geht der russische Vormarsch nur schleppend voran. Die Belagerung der Hauptstadt Kiew ist zunächst gescheitert. Und in Mariupol wurde um das Asow-Stahl-Werk bis zuletzt gekämpft.

Bleibt das besetzte Cherson. Dort sollen alle Bewohner das Anrecht auf russische Pässe bekommen, die Währung soll auf Rubel umgestellt werden. Der Vizechef der russischen Verwaltung kündigte an, "uns maximal in den Aufbau der Russischen Föderation zu integrieren". Einen echten Sieg kann Putin wohl nicht verkünden. Außenminister Sergej Lawrow dämpfte im Vorfeld des 9. Mai die Erwartungen. "Das Tempo der Umsetzung der Operation in der Ukraine hängt vor allem von der Notwendigkeit ab, alle beliebigen Risiken für die Zivilbevölkerung und die russischen Soldaten so gering wie möglich zu halten." (David Krutzler, red, 8.5.2022)