Beim Tanzen zu polyphonen Klängen wird ein Pakt für das Leben geschlossen: Choreograf François Chaignaud und Komponist Geoffroy Jourdain verzaubern auf großer Bühne.

Foto: Smith

Es scheint so selbstverständlich, dass der Körper eine Stimme hat. Dass er spricht, singt oder schreit oder durch Geräusche mit Farben, Spitzen und Textur artikuliert. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs, wie die Festwochen zeigen – hier exemplarisch bei Performances wie tumulus von François Chaignaud, Ulla von Brandenburgs Friede auf Erden und bei einer New Creation von Bruno Beltrão.

Diese Arbeiten zeigen, wie sich der Begriff der Stimme dehnen kann, wenn es um den Körper geht. Gerade hinter Brandenburgs Kooperation mit dem Wiener Arnold-Schoenberg-Chor stehen Fragen danach, wie Menschen ihre Stimmen erheben – für Krieg oder Frieden –, wer ihnen eine Stimme gibt, in welchen Chor sie einstimmen.

Wer in Russland oder der Ukraine hätte für den Frieden gestimmt, wäre da die Chance gewesen, sich zu äußern? Stimmen werden manipuliert, abgewürgt oder übertönt, Körper misshandelt oder ausgelöscht.

Nun wurde wieder einmal auf die Stimmen jener, die sich gegen all das erheben, gepfiffen. Also muss das Streben nach Stimmrechten weitergehen, ganz so wie bei der Zusammenarbeit des französischen Choreografen Chaignaud mit dem Komponisten Geoffroy Jourdain.

Gemeinschaftskörper

In tumulus geht es um eine Utopie, in der polyphone Musik zu Gemeinschaftskörpern führt. Vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit des Körpers wird ein Pakt fürs Leben geschlossen: Auf der Bühne ist ein großes Hügelgrab (lateinisch: tumulus) zu sehen, um und in das sich 13 Personen im Chor tanzend und singend bewegen.

Sie zeigen das Wunder des Zusammenfließens ihrer Stimmen und Handlungen zu Musikwerken des 15. bis 20. Jahrhunderts, etwa Josquin Desprez’ Agnus Dei III, Dies Irae von Antonio Lotti und Claude Viviers Musik für das Ende.

Bei Friede auf Erden der Künstlerin Ulla von Brandenburg tragen sieben Werke von Schoenberg – darunter Du sollst nicht, du musst, op. 27, 2. Satz – die Performerinnen und Performer durch einen Raum (das Jugendstiltheater) und sein chromatisches Leuchten: "Du sollst dir kein Bild machen! / Denn ein Bild … begrenzt, fasst, / was unbegrenzt und unvorstellbar bleiben soll."

Aus dieser biblischen Aufforderung treten die beiden Antagonisten Stimmung und Bestimmung gegeneinander an. Die Idee eines Gesamtkunstwerks tanzt umher, Komplexität wird riskiert, die Vielfalt der Stimmen gefeiert.

Straßentänze

Wie der Körper seine Stimme erhebt, ohne zu sprechen oder zu singen, ist bei Bruno Beltrão und seiner Grupo de Rua zu erleben.

Die Geste, der Tanz und die Organisation von Handlungen bilden jene leibhaftigen Stimmen, die sich erheben, wo Worte und Klänge nicht mehr reichen.

Dem Brasilianer Beltrão ist es erst gelungen, die Straßentänze des Hip-Hops auf die Bühne zu transferieren, und zuletzt, ihre Heftigkeit und Virtuosität gegen die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro zu richten.

Als ein Körper des Protests – wie schon bei Beltrãos Vorgängerarbeit Inoah, die bei den Festwochen vor fünf Jahren zu sehen war – stimmt das rasante Ensemble auch in der New Creation gegen politische Kräfte, die in ihrem Todestrieb Freiheit und Lebensraum zerstören. (Helmut Ploebst, 9.5.2022)