Man muss diese Worte langsam auf der Zunge zergehen lassen: "Dass Selenskyj Jude ist, will nichts heißen. Wenn ich nicht irre, hatte Hitler auch jüdisches Blut, das bedeutet also nichts. Das weise jüdische Volk sagt von sich, dass die Juden selbst die größten Antisemiten sind." Das war die Antwort Sergej Lawrows, seit bald zwei Jahrzehnten russischer Außenminister, am Sonntagabend vor einer Woche in einem italienischen Fernsehsender Silvio Berlusconis auf die Frage: Wie könne man denn von der ukrainischen Regierung sagen, sie stehe den Neonazis nahe, wie die Russen das tun, wo der ukrainische Präsident selber doch Jude sei.

Sergej Lawrows ist seit bald zwei Jahrzehnten russischer Außenminister.
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Dass Lawrow 42 Minuten lang ohne Nachfragen den Unsinn über die "Nazifizierung" der Ukraine verbreiten durfte, war wohl auch kein Zufall, da Berlusconi fünf Wochen brauchte, um seine "tiefe Enttäuschung" über seinen engen Freund Wladimir Putin, mit dem er sogar gemeinsamen Urlaub verbracht hatte, auszudrücken.

Die eindrucksvolle Selbstentlarvung eines von so vielen westlichen Kollegen so lange umschwärmten russischen Spitzendiplomaten hat zu Recht weltweit Empörung und Proteste ausgelöst. Vor allem in Israel, wo jeder fünfte jüdische Einwohner überwiegend aus Russland oder der Ukraine stammt. Putin habe sich für die Aussagen seines Außenministers in einem Telefonat mit dem israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett am Donnerstag entschuldigt. Das teilte das Büro des Regierungschefs mit. Bennett habe die Entschuldigung angenommen und "für die Klarstellung der Einstellung des russischen Präsidenten zum jüdischen Volk und zum Holocaust-Gedenken gedankt".

Protokollarische Nettigkeiten

Also Schwamm drüber? Keinesfalls! In der offiziellen russischen Mitteilung zum Telefonat ist keine Rede von einer Entschuldigung Putins. Dieser habe bloß zum israelischen Unabhängigkeitstag gratuliert und die Bedeutung des sowjetischen Siegs über Nazideutschland und die Tatsache hervorgehoben, dass 40 Prozent der während des Holocausts ermordeten Juden "Bürger der UdSSR" gewesen seien. Bennett seinerseits soll auf den "entscheidenden Beitrag der Roten Armee zum Sieg über den Nazismus" hingewiesen haben.

Diese protokollarischen Nettigkeiten können über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass das russische Außenministerium noch am Dienstag die Kritik aus Israel scharf als "antihistorisch" zurückgewiesen hat: "Eine Kooperation zwischen Juden und Nazis" habe es gegeben; Israel unterstütze das "Neonaziregime in Kiew", und "israelische Söldner" kämpften in Mariupol. Dieser Tage war außerdem eine Delegation der terroristischen Hamas in Moskau.

An der jederzeit einsetzbaren antisemitischen Propagandaversion der großrussischen Nationalisten ändert angesichts der offiziell nicht existierenden Entschuldigung das Telefonat zwischen Putin und Bennett überhaupt nichts. Israel hat sich bisher nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Die israelische Regierung laviert wegen der russischen Kontrolle über das benachbarte Syrien, aber auch aus Rücksicht auf die USA, den engsten Verbündeten im Dreieck zwischen Moskau, Kiew und Washington. Wie lange geht das? (Paul Lendvai, 9.5.2022)