Ungewöhnlich viel Gegenwart lastete am Montag auf dem Roten Platz in Moskau. Normalerweise ist es die Vergangenheit, die hier am 9. Mai dominiert, am wichtigsten russischen Feiertag, dem Tag des Gedenkens an den Sieg gegen Hitlerdeutschland. Daneben gibt es stets noch eine Portion Zukunft zu bestaunen – eine Zukunft allerdings, von der auch die Menschen in Russland hoffen müssen, dass sie nie eintritt: Wenn atomwaffenfähige Interkontinentalraketen die Militärparaden aufmotzen, dann üblicherweise nicht, um die Feiertagslaune durch Kriegsangst zu trüben, sondern um mögliche Bedrohungen durch Abschreckung vom Land fernzuhalten.

Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Roten Platz in Moskau.
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Diesmal aber war alles anders. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin konnte sich in seiner weltweit mit Spannung verfolgten Rede dem Druck der Gegenwart nicht entziehen. Einem Druck, den er durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine selbst erzeugt hat und dessen verquere Logik einfach nicht passen wollte zum historischen Vermächtnis des 9. Mai. Und so wurde ein Feiertag, der eigentlich für nationale Selbstgewissheit und das unbestreitbare Verdienst bei der Befreiung Europas von der Herrschaft der Nationalsozialisten steht, zum Tag einer irrlichternd-aggressiven Rhetorik und der weiteren Verwirrung über die eigene Politik.

Die gute Nachricht: Die Sorge, Putin könnte seine Rede nützen, um der Ukraine offiziell den Krieg zu erklären und eine Generalmobilmachung zu verkünden, hat sich nicht bewahrheitet. Manche hatten genau das befürchtet, zumal der bisherige Verlauf der "militärischen Spezialoperation" nicht wirklich nach Putins Geschmack sein dürfte. Freilich wäre damit aber auch das Narrativ unbrauchbar geworden, wonach in der Ukraine lediglich eine Aktion zur "Befreiung" eines "Brudervolkes" über die Bühne gehe.

Da Putin aber auch nach 75 Tagen Krieg kaum abgeschlossene militärische Erfolge vorweisen kann, kündeten seine Worte auf dem Roten Platz von der Fortsetzung jenes Kurses, der vor allem auf Unberechenbarkeit setzt. Immer wieder etwa sprach er vom Donbass. Doch wer das als Anzeichen dafür deutete, dass der Kreml-Chef einen geografischen Rückzug auf die Ostukraine plane, wurde rasch zurückgepfiffen: Sogleich war wieder von den USA die Rede, die dort ein Bedrohungsszenario aufgebaut und einen "Präventivschlag" Moskaus unausweichlich gemacht hätten. Das freie Oszillieren zwischen einem regionalen Konflikt an der Seite prorussischer Separatisten und dem großen geopolitischen Kampf gegen den Westen – es ist längst zu Putins Paradedisziplin geworden.

Trotz so viel Gegenwart musste der Kreml-Chef freilich auch das Weltkriegsgedenken würdigen. Er tat es, indem er millionenfache Verluste und letztlich den Sieg einfach für "das Vaterland" monopolisierte. Die Menschen hätten damals "bei Moskau und Leningrad, Kiew und Minsk, Stalingrad und Kursk, Sewastopol und Charkiw" gekämpft. Und genauso sei es auch heute. Ukrainerinnen und Ukrainer als solche? Bei Putin kommen sie gar nicht vor. Das ist die schlechte Nachricht. (Gerald Schubert, 9.5.2022)