Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) plädiert für das Ende verpflichtender Deutschförderklassen – diese würden ihren Zweck nicht erfüllen.

Foto: www.corn.at Heribert CORN

Corona, der anhaltende Zuzug vertriebener ukrainischer Kinder und Jugendlicher ins Schulsystem sowie Deutschdefizite bei vielen Schülern, die in Österreich geboren wurden: Wien und seine Bildungseinrichtungen sehen sich mit großen Herausforderungen konfrontiert. Um sie bewältigen zu können, forderte Vizebürgermeister und Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (Neos) vom Bund 1000 zusätzliche Lehrerplanstellen – bislang ohne Erfolg.

STANDARD: Mehr als 2700 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind bereits an Wiener Schulen. Kommen diese damit zurecht?

Wiederkehr: Das ist eine große Herausforderung und Leistung. 2700 zusätzliche Schülerinnen und Schüler sind umgerechnet über 110 Klassen. Aber selbstverständlich: Je mehr Kinder und Jugendliche noch kommen, desto schwieriger wird es.

STANDARD: Wie viele zusätzliche Lehrkräfte wurden angestellt?

Wiederkehr: Wir haben rund 100 zusätzliche Pädagoginnen und Pädagogen aufgenommen. Da sind pensionierte Lehrkräfte dabei, Lehramtsstudierende und Lehrpersonal, das aus der Ukraine geflohen ist. Dieses Schuljahr können wir noch gut bewältigen. Aber wenn der Krieg über den Sommer anhält, wird es eng.

STANDARD: Sie fordern für Wien 1000 zusätzliche Lehrerplanstellen vom Bund. Gibt es Fortschritte bei den Verhandlungen?

Wiederkehr: 1000 zusätzliche Lehrkräfte sind mindestens notwendig, das wäre eine Steigerung um zehn Prozent. Das erste Kontingent, das wir für das nächste Schuljahr vom Bund bekommen haben, ist ernüchternd und enttäuschend. Mit dem können wir nur den Minimalbetrieb aufrechterhalten. Wir erhalten viel zu wenig für Sprachförderung. Selbst wenn wir die Deutschförderklassen mit 18 Kindern vollfüllen, bekommen wir nicht genug Ressourcen. Da ist es zynisch, wenn die ÖVP kritisiert, dass Kinder in Wien nicht gut Deutsch können.

STANDARD: Wie viele zusätzliche Lehrkräfte erhält Wien vorerst vom Bund?

Wiederkehr: Weil Wien ein großes Schülerwachstum hat, gehen damit automatisch zusätzliche Lehrpersonen einher. Die können wir aber nur für neu benötigte Schulen nützen. Darüber hinaus ist nichts zugesagt. Dazu kommt: Wenn die Corona-Sonderförderungen gestrichen werden sollten, wäre das ein großes Problem. Auch dafür haben wir noch keine Zusage erhalten. Mit Stand heute schaut es im nächsten Schuljahr für Wien schwieriger aus als in diesem Schuljahr.

STANDARD: Sie fordern auch die Aussetzung der Deutschförderklassen. Nur für ukrainische Schüler oder für alle?

Wiederkehr: Ich bin dafür, dass Schulen entscheiden sollen, wie sie die Deutschförderung umsetzen. Das starre Gerüst der Deutschförderklassen ist überholt und erfüllt seinen Zweck nicht. In meinen Augen müsste die Verpflichtung fallen.

STANDARD: Noch vor dem Ukraine-Krieg gab es in Wiens Volksschulen 10.500 Kinder mit Deutschdefiziten, sie wurden als außerordentliche Schüler eingestuft. 60 Prozent davon wurden in Österreich geboren. Eine Frage an den Bildungs- und Integrationsstadtrat: Wer trägt für diese Entwicklung die Verantwortung?

Wiederkehr: Die Zahlen sind sehr ernst zu nehmen und auch problematisch. Das möchte ich gar nicht beschönigen. An dem müssen wir als Gesellschaft und in der Politik ansetzen. Sprachförderung muss ausgebaut werden. Wir verdoppeln das Personal der Assistenzkräfte im Kindergarten, das passiert im September und kostet uns 13 Millionen Euro im Jahr. Wir forcieren Elternarbeitsprojekte, etwa Deutschkurse für Eltern an Schulen.

STANDARD: Sie haben 2020 auch angekündigt, die Zahl der Sprachförderkräfte in Kindergärten von 300 auf 500 aufzustocken. 50 kamen bereits dazu, aktuell sind es aber immer noch nicht mehr als 300. Scheitert Ihr Ausbauplan?

Wiederkehr: Durch die erschwerten Arbeitsbedingungen in der Pandemie haben viele – wie in anderen Berufen – den Job gewechselt. Anhand der Zahl der Bewerbungen sieht man auch, dass genug Personen als Sprachförderkräfte arbeiten wollen. Unser Ziel ist jedenfalls, mehr als 50 diesen Herbst und weitere im nächsten Schuljahr anzustellen.

STANDARD: Ist die Kindergartengruppengröße mit 25 Kindern pro Pädagoge ein Problem?

Wiederkehr: Wir haben viele offene Stellen. Selbst wenn wir kurzfristig den Betreuungsschlüssel verbessern, hätte es keine Auswirkungen. Das Modell der fünfjährigen Ausbildung mit Matura hat nicht dazu geführt, dass Personen im Beruf bleiben wollen. In Wien setzen wir daher auf ein dreijähriges Kolleg für Matura-Absolventen. In Floridsdorf planen wir eine Bildungsanstalt. Es soll Ausbildungsgeld für Quereinsteigerinnen geben. Gruppen verkleinern können wir, wenn wir die Personalherausforderung gelöst haben.

STANDARD: Wir befinden uns in der zweiten Woche der Matura. Finden Sie sie zeitgemäß?

Wiederkehr: In ihrer jetzigen Form nicht. Unsere Gesellschaft und die Herausforderungen ändern sich massiv, der Fächerkanon ist aber gleich geblieben. Wir müssen weg von reiner Wissensvermittlung, müssen Kompetenzorientierung, Kreativität und Kooperationsfähigkeit in den Mittelpunkt stellen. Die Matura ist aktuell viel zu überfrachtet. Viele lernen nur mehr auf den Stoff hin, wie etwa bei der Mathe-Matura.

STANDARD: Also Mathematik einstampfen?

Wiederkehr: Ich bin dafür, die Matura stark zu verschlanken und radikal zu überdenken, was die Mindestanforderungen sind. Die Pflichtfächer selbst sind schon sinnvoll und Grundkompetenzen in Mathe, Deutsch und Englisch wesentlich. Aber dass es wichtig ist, eine Ellipse bei der Matura ausrechnen zu können, bezweifle ich.

STANDARD: Wie bereiten sich die Schulen auf den Corona-Herbst vor?

Wiederkehr: Aktuell steht nicht mehr der gesundheitspolitische Aspekt, sondern der bildungspolitische im Vordergrund. Wir bereiten uns auf unterschiedliche Szenarien vor und haben Testen, Maske, Impfen als Instrumente. Auf Distance-Learning auszuweichen ist für mich aber keine Option mehr. Die psychosozialen Auswirkungen sind katastrophal. Auch wenn es nicht in meinen Kompetenzbereich fällt, werde ich alles dafür tun, dass Schulen nicht mehr geschlossen werden. (David Krutzler, Elisa Tomaselli, 10.5.2022)