Galt Österreich vor einigen Wochen noch als fixer Qualifikant für das Finale, ist diese Sicherheit deutlich geringer worden.

Foto: APA/EBU / NATHAN REINDS

Technisch klappte bei den Proben nicht alles in Turin. Ausgerechnet eine bewegliche Sonne wollte nicht so aufgehen, wie der ausrichtende italienische Sender Rai es versprochen hatte. Dafür beeindruckt die Bühne mit Bögen und Wasserspielen. Die Turinerinnen und Turiner nehmen recht gelassen zur Kenntnis, dass in der Pala Olimpico im Süden der Stadt vierzig Länder um die Trophäe 2022 singen werden. Das Sanremo-Fesival, die Mutter aller Gesangswettbewerbe seit 1951, bleibt die wichtigere TV-Show Italiens. Der europäische Ableger Song Contest gewinnt trotzdem allmählich an Popularität, auch durch die italienischen Erfolge der letzten Jahre.

Lum!x kennt die Stadt und die besten Restaurants. Der 19-jährige oberösterreichische DJ ist der Hoffnungsträger Österreichs. Der italienische Star-DJ Gabry Ponte (Eiffel 65) wurde 2019 Mentor des jungen Rohrbachers, und sie nahmen gemeinsam Singles auf. Seither hat Lum!x einige Millionen Follower. Er lebte zuerst ein Jahr in Turin, mittlerweile in Mailand. Pia Maria begleitet den DJ beim Song "Halo". Die 18-jährige Innsbruckerin hat erst vor kurzem ihre Lehre als Maskenbildnerin absolviert. Jetzt gibt sie gleich in der größten Musikshow der Welt ihr Debüt.

Ukraine als Favorit

Das Kalush Orchestra aus der Ukraine geht als Favorit in dieses Semifinale. Der Beitrag "Stefania" würde auch ohne Begleitumstände musikalisch und inszenatorisch beeindrucken. Der Krieg und die dadurch zu erwartende Sympathiewelle für die ukrainische Gruppe erhöhen die Chancen auf eine Topplatzierung – oder einen Sieg.

17 Beiträge stehen im ersten Semifinale auf dem Programm. Zehn davon werden das Finale am Samstag erreichen. Österreich darf mitentscheiden, wer weiterkommen soll. Veni. Vidi. Eurovici.

1. Albanien: Ronela Hajati – Sekret

Ronela Hajati kam mit großem Selbstvertrauen nach Turin. Der orientalisch angehauchte Beat kam bei den Fans und den Wettquoten gut an. Zudem bediente sie die sozialen Medien mit viel Engagement und Ironie. Nach den Proben wurde sie in Postings aber mit Häme und reichlich Bodyshaming überschüttet. Sogar die European Broadcasting Union (EBU) sah sich genötigt, einzuschreiten und zu mahnen. Auf Twitter schrieb sie dann frustriert, sie wäre froh, wenn das alles vorbei ist. Es wird aber wohl erst Samstag beim Finale für Ronela vorbei sein, denn für ein Ausscheiden macht der Partyknüller zu viel Spaß. Nackte Haut gibt es zudem auch.

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Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 7

2. Lettland: Citi Zēni – Eat Your Salad

Tiktoker werden dieses Lied schon kennen, denn auf der Plattform ging es viral. Allerdings musste der Liedtext für die große Bühne zensiert werden. "Instead of meat, I eat veggies and pussy, I like them both fresh, like them both juicy" hieß es ursprünglich. Statt "pussy" gibt es eine Pause beim ESC. Der Song besingt eine klimafreundliche Lebensweise und vergleicht sie mit sexueller Freude.

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Tipp: Wackelkandidat, eher raus

Buchmacher: Platz 9

3. Litauen: Monika Liu – Sentimentai

Klassisches kommt vom Nachbarland der Letten. Litauen schickt einen geradezu französisch anmutenden Song nach Turin. Monika Liu hat bereits eine längere Karriere in ihrer Heimat vorzuweisen. Sie will die Schönheit der litauischen Sprache in ihrem Song zur Geltung bringen, sagt sie. Das gelingt ihr. Ein sehr eleganter Beitrag. Die Jurys könnten "Sentimentai" ins Finale retten.

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Tipp: Wackelkandidatin, eher weiter

Buchmacher: Platz 12

4. Schweiz: Marius Bear – Boys Do Cry

In der Schweizer Armee wurde er auf seine starke und raue Stimme aufmerksam gemacht. Und so wurde der gelernte Baumaschinenmechaniker Musiker. Gerade als gestandener Mann möchte er in seinem Song die toxische Männlichkeit infrage stellen. Er macht dies mit einem sehr gefühlvollen Song mit akustischen Instrumenten. Es stellt sich aber die Frage, ob diese große Stimme nicht mehr Rock und Tempo vertragen hätte. Dieses Jahr sind nämlich sehr, sehr viele Sad Boys beim Song Contest vertreten. Zudem ist die Inszenierung sehr düster gehalten.

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Tipp: eher raus

Buchmacher: Platz 10

5. Slowenien: LPS – Disko

Der slowenische Rundfunk veranstaltet vor dem eigentlichen Vorentscheid zum Song Contest noch einen für den Nachwuchs. Die Band LPS, eine Abkürzung, die für Last Pizza Slice steht, hat sich in einer Schule gegründet. Und so kommt genau das nach Turin: eine Gruppe, wie aus einem Maturaball entführt und auf die Song-Contest-Bühne gestellt. Die Discokugel ist schön groß!

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Tipp: raus

Buchmacher: Platz 16

6. Ukraine: Kalush Orchestra – Stefania

Kalush ist eine Stadt in der Westukraine, nach der der Rapper Oleh Psiuk seine Hip-Hop-Formation benannt hat. Danach begann er, seinen Rap mit traditionellen ukrainischen Folklore-Instrumenten und Gesang zu kombinieren, eben dem Orchestra. Wenn etwa das Flötenspiel an die Formation Go_A vom Vorjahr erinnert, dann liegt das einfach daran, dass es der Flötist ist, der den Part einpfiff. Das Lied handelt von der Mutter des Rappers. Durch den Angriff auf die Ukraine hat das Lied eine stärkere Bedeutung bekommen. Für Gänsehaut und Eindringlichkeit ist gesorgt, da wird kein Auge trocken bleiben. Die Ukraine überzeugte in den letzten Jahren immer mit kreativen Songs und hervorragenden Inszenierungen. 2022 ist das nicht anders, allen Widrigkeiten zum Trotz.

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Tipp: Gewinner des ersten Semifinales

Buchmacher: Platz 1

7. Bulgarien: Intelligent Music Project – Intention

Nachdem uns Bulgarien in den letzten Jahren häufig mit zeitgemäßem Pop verwöhnt hat, versucht das Land es dieses Mal mit etwas angegrautem Altherrenrock. Intelligent Music Project ist nicht gerade ein bescheidener Bandname. Gegründet wurde die Formation 2010 als Hop-on-hop-off-Projekt des bulgarischen Philanthropen und Unternehmers Milen Wrabenski. Sänger Borislaw Mudolow-Kosatkata hat bei jeder Probe jeden Ton getroffen, trotzdem bleibt der Rocksong merkwürdig schaumgebremst.

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Tipp: raus

Buchmacher: Platz 17

8. Niederlande: S10 – De Diepte

Stien den Hollander heißt die 21-jährige Sängerin. Sie konnte in ihrer Heimat bereits mit zwei Alben beeindrucken und wird vom Feuilleton gefeiert. Vor allem ihre Erfahrungen mit Depressionen und Psychosen finden Eingang in ihre emotionalen Alben, so auch im Song-Contest-Song "De Diepte" (Die Tiefe). Ihr gefiel der Song Contest in Rotterdam so gut, dass sie twitterte: Was muss ich machen, um dort auch mal mitzumachen? Der niederländische Sender Avrotros lud sie daraufhin ein, einen Song einzureichen, der sich in der internen Auswahl durchsetzen konnte.

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Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 4

9. Moldau: Zdob și Zdub & Advahov Brothers – Trenulețul

Bereits zum dritten Mal nimmt die Rockband Zdob și Zdub am Song Contest Teil. Sie ist bekannt für ihre Mischung aus Punk und Folklore. Beim Debüt des Landes 2005 konnte die Band rund um Frontmann Roman Iagupov den sechsten Platz, 2011 den elften Platz erreichen. Dieses Mal haben sie die Brüder Advahov mit dabei, akademisch ausgebildete Klassik- und Folklore-Musiker. Sie besingen den Zug zwischen der moldauischen Hauptstadt Chișinău und der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Moldau ist in zwei Länder zerfallen, der Osten, Transnistrien, ist russisch geprägt, während der Westen rumänisch geprägt ist. Das Land befürchtet daher, in den Krieg hineingezogen zu werden. Somit hat der Song auch eine politische Dimension. In der Formation sind beide Sprachgruppen vertreten.

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Tipp: weiter

Buchmacher: Platz 8

10. Portugal: Maro – Saudade, Saudade

Eigentlich wollte Mariana Secca, die sich als Künstlerin Maro nennt, nach ihrer Musikausbildung in Boston weiterhin in den USA leben. Doch in der Covid-Krise entschied sie sich, nach Portugal zurückzukehren. Sie schrieb "Saudade, Saudade", einen Song über dieses unübersetzbare portugiesische Lebensgefühl zwischen Sehnsucht und Weltschmerz. Damit gewann sie die portugiesische Vorausscheidung. Die unterlegenen Kandidatinnen und Kandidaten taten ihr offenbar so leid, dass sie sie einlud, als Backgroundstimmen mit nach Turin zu fahren. Die einzige Gefahr für diesen Beitrag ist wohl die moldauische Turbulenz zuvor, denn hier wird es entspannter und ruhiger. Die Inszenierung ist vielleicht eine Spur zu reduziert und dunkel.

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Tipp: eher knapp weiter

Buchmacher: Platz 6

11. Kroatien: Mia Dimšić – Guilty Pleasure

Wer sich beim kroatischen Beitrag an "Willow" von Taylor Swift erinnert fühlt, dem geht es wie der kroatischen Öffentlichkeit nach dem Sieg in der Vorausscheidung des Landes. Die Parallelen waren Hauptthema der Medien, worauf Mia Dimšić selbst ein Video mit beiden Songs aufnahm und betonte, Taylor Swift sei tatsächlich ihr Vorbild. Der Song plätschert nett dahin, im Radio könnte das ganz gut funktionieren, aber "Guilty Pleasure" ist kein Wettbewerbsbeitrag.

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Tipp: raus

Buchmacher: Platz 14

12. Dänemark: Reddi – The Show

Frauen-Pop-Punk ist das Rezept Dänemarks in diesem Jahr. Frauenpower war beim ESC oft schon eine erfolgreiche Formel. Ob sich das bei dieser schwedisch-dänischen Formation auch bewährt, darf angezweifelt werden. "The Show" kommt wohl dreißig Jahre zu spät.

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Tipp: raus

Buchmacher: Platz 15

13. Österreich: Lum!x feat. Pia Maria – Halo

Als die Studioversion von "Halo" erschien, jubelten Song-Contest-Fans quer durch Europa. Nachdem schon viele Balladen und traurige Songs vorgestellt worden waren, tat eine Dancenummer der klassische Art vielen gut. Bei den ersten Live-Auftritten kam aber Zweifel auf. Pia Maria hatte aufgrund einer Covid-Infektion noch Stimmbandprobleme. Bei den Proben hörte sich die Stimme schon etwas besser an, wenn auch nicht immer sattelfest. Galt Österreich vor einigen Wochen noch als fixer Qualifikant für das Finale, ist diese Sicherheit deutlich geringer worden.

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Tipp: hoffen wir das Beste, wird knapp

Buchmacher: Platz 11

14. Island: Systur – Með hækkandi sól

In der isländischen Vorausscheidung traten die drei Schwestern (isländisch Systur) noch als Sigríður, Elísabet und Elín Eyþórsdóttir auf. Das wäre für ein internationales Publikum aber wohl zu schwer auszusprechen. "Með hækkandi sól" ist schon schwer genug und bedeutet "Mit der aufgehenden Sonne". Man hört, dass das Trio schon viele Jahre zusammen singt, denn das klingt recht harmonisch. Der Folksong plätschert zu sehr dahin, um sich am Ende des Abends noch an ihn zu erinnern.

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Tipp: raus

Buchmacher: Platz 13

15. Griechenland: Amanda Georgiadi Tenfjord – Die Together

Eigentlich kommen jetzt zwei norwegische Beiträge hintereinander. Amanda Tenfjord wurde in Norwegen geboren, ist aber Halbgriechin. Damit sie auch in Griechenland als Kandidatin akzeptiert wird, fügte sie den Nachnamen ihres Vaters, Georgiadi, ihrem Künstlernamen hinzu. Ob "Die Together" ein kluger Songtitel inmitten einer Pandemie ist? Der Song ist recht generisch, dafür aber die Stimmlage schön und der Songaufbau klug. Die griechische Diaspora wird das schon ins Finale tragen.

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Buchmacher: Platz 2

16. Norwegen: Subwoolfer – Give that Wolf a Banana

"Masked Singer" feiert seine Premiere beim Song Contest. Wer hinter den Wolfsmasken des Duos steckt, ist immer noch unbekannt, es gibt in Norwegen und auf Fanblogs jede Menge Spekulationen dazu. Das Spaßlied hat eine ausgefeilte Choreografie, die in Turin bereits an mehreren Straßenecken getanzt wurde. Der Song, der Beat und der lustige Text machen einfach Spaß, der Song ist perfekt für den Song Contest. "Give that Wolf a Banana" wird auch am Samstag weit vorne mitmischen. Ohrwurmgefahr! Wer den Song dreimal gehört hat, bekommt ihn drei Wochen lang nicht mehr aus dem Ohr.

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Buchmacher: Platz 3

17. Armenien: Rosa Linn – Snap

Von Rosa Kostandjan, die sich international Rosa Linn nennt, gibt es noch nicht sehr viele Veröffentlichungen. Ihre Debütsingle war aber gleich ein Duett mit der bekannten amerikanischen Popsängerin Kiiara. Sie singt einen sehr unprätentiösen Song, der so gar nicht armenisch klingt. Die Umsetzung für die Bühne ist sehr gelungen, denn zuerst sieht man sie hinter der Bühne, bis sie vorne durchbrechen kann und das Publikum findet. Ein sehr gelungenes Ende des ersten Semifinales.

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Buchmacher: Platz 5

(Die Platzierungen der Buchmacher basieren auf dem Durchschnitt aller Anbieter, Stand Montag, 17.30 Uhr). (Marco Schreuder*, 10.5.2022)