Manchmal ist Laufen dann halt einfach nur leiwand. Und zwar von der allerersten Minute an. Obwohl noch am Tag zuvor nicht nur der innere, sondern auch jeder andere Schweinehund laut "Will nicht! Müde! Faul!" gegrunzbellt hat.

Und die Versuchung, das Falsche zu tun, am Samstag, beim Abholen der Startnummern, kurz tatsächlich da war.

Da wurden nämlich zwischen Rathauspark und Uni die Finishermedaillen gerade aus einem Lieferwagen geholt und auf jene Kleiderständer-Racks gehängt, von denen aus sie tags darauf, also am Sonntag, dann verteilt werden würden. Nach dem Lauf, logischerweise. Aber da die Dinger da so einsam baumelten, überlegte ich …

Aber nur kurz. Ganz kurz.

Foto: Tom Rottenberg

Aber manche Dinge tut man einfach nicht – auch wenn sie möglich wären. Auch wenn die Lust, tags darauf den Wings for Life World Run (WFL) tatsächlich voll zu laufen, gerade endenwollend ist.

Gründe dafür finden sich immer. Diesmal hatte ich sogar einen recht plausiblen: Letzte Woche hatte ich in Cesenatico doch ein paar Rad- und Sonst-was-Kilometer gesammelt – und war ein kleines bisserl müde.

Aber der World Run ist mittlerweile einer der Fixpunkte im Wiener Laufjahr. Und, nachdem ich vor ein paar Wochen schon den Stadtmarathon geschwänzt hatte, auch hier auszulassen fühlte sich dann doch eher falsch an.

Foto: Tom Rottenberg

Dabei hatte ich mir sogar schon überlegt, das Nichtlaufen zur Geschichte zu machen. Das Mopsen einer Finishermedaille hätte dazu gepasst: Es wäre ums Mogeln gegangen.

Das geht beim World Run nämlich recht einfach. Ich kenne sogar einen, der das mehrmals tat – und anhand seiner "Ergebnisse" mittlerweile selbst glaubt, ein toller Hecht zu sein.

Wobei nicht nur mir schleierhaft ist, wieso jemand beim Laufen schummelt: Außer einem selbst interessiert sich nämlich exakt niemand dafür, ob man 257. oder 297. in der Altersklasse geworden ist. Und selbst weiß man ja, dass man nach dem Start mit der U-Bahn die Zeitnehmungsmatten abklapperte und sich dann bei der Alten Donau, also bei Kilometer 27, ins Feld mischte …

Foto: Tom Rottenberg

Nur: Was wäre der Mehrwert, das per Selbstversuch zu erzählen? Keiner. Abgesehen davon, dass so mehrere andere, ziemlich sicher relevantere Geschichten ins Hintertreffen gerieten oder gar nicht erzählt würden.

Zum einen natürlich die vom Lauf von 10.000 Menschen alleine in Wien. 10.000, die für jene liefen, die es selbst nicht können. Und das galt heuer nicht nur für Menschen im Rollstuhl oder mit einer anderen Disposition, die Laufen (oder Gehen) unmöglich macht. Dazu später.

Zuerst kommen die Basics – auch wenn mittlerweile bekannt sein dürfte, dass der World Run eine weltweit zur gleichen Zeit ausgetragene Charity-Aktion ist, über die Geld für die Rückenmarksforschung gesammelt wird.

Foto: Tom Rottenberg

Auch dass hinter dem Event, bei dem man vor der eine halbe Stunde nach Startschuss langsam losfahrenden und dann kontinuierlich schneller werdenden, das Feld von hinten aufrollenden Ziellinie davonläuft, Red Bull steht. Ob die Mateschitze die zu 100 Prozent in die Forschung fließenden Startgelder aus der Portokasse zahlen könnten, tut da wenig zur Sache: Menschen das Gefühl zu geben, mit ihrem Geld und ihrem Tun zu etwas Gutem beizutragen, vielleicht ja sogar etwas nachhaltig verändern zu können, ist mehr als "Mehrwert", mehr als Hoffnung – es ist sinnstiftend.

Und es funktioniert besonders gut, wenn das Drumherum stimmig ist. Wenn der Event funktioniert – und zwar für alle.

Foto: Tom Rottenberg

Man mag zur Marketingmaschinerie hinter der "Dose" stehen, wie man will: Dass man in Fuschl weiß, wie man inszeniert, mitnimmt und aktiviert, wird niemand bestreiten. Schon gar nicht, wenn er oder sie je auch nur am Rande eines Events wie des World Run dabei war.

Da passt dann nämlich jedes Detail: Moderation und Animation sowieso – aber auch im Vorfeld, entlang und neben der Strecke und im Nachhinein stimmen nicht nur die großen, sondern auch die vermeintlich kleinen und noch kleineren Dinge.

Dinge, die andere Läufe reichlich nackt wirken lassen: Läufe, bei denen die Startnummer kein Öffi-Ticket ist, etwa …

Foto: Tom Rottenberg

… oder bei denen das Teilnehmerinnen- oder Finishershirt nicht im Startkit inkludiert ist. Läufe, bei denen es keine vom Veranstalter gestellten Pacer gibt. Oder bei denen die Versorgungsstellen nicht beidseitig der Strecke und mit motivierten Stewards (und natürlich Getränken) bis zum Schluss überbestückt sind.

Aber vor allem Läufe, bei denen nicht auch der langsamste Teilnehmer, die allerletzte Läuferin vom ersten bis zum letzten Schritt das Gefühl vermittelt bekommt, geschätzt und willkommen zu sein – und nicht bloß zahlender Teil diverser Zahlenspiele und Bilanzen. Jemand, dem oder der nur das absolute Minimum an Raum, Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegengebracht wird.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich funktioniert all das nicht nur beim World Run. Weltweit ist vieles davon quasi Standard. Einiges bei manchen, etlichen Läufen ja auch hierzulande. Aber eben nicht bei allen. Zu den "Verdiensten" des World Run gehört, dass das mittlerweile auch Läuferinnen und Läufern ohne internationale Vergleichsmöglichkeit auffällt: "So viel besser als …" leitete auch heuer wieder etliche Aha-Erlebnis-Erzählungen unterwegs ein.

Nur: Just denen, die sich hier leicht und ohne in den Konkurs zu schlittern Etliches abschauen könnten, wird das weiterhin egal sein. Auch weil es zum Wesen Wiens gehört, dass Sponsor-, Medien- und Stadtvertreter diese Klagelieder zwar längst auch anstimmen – aber nie denen vorsingen, die sie hören sollten.

Foto: Tom Rottenberg

Also wird hier, statt wienerisch zu raunzen, jetzt die Erzähllinie der Bilder übernommen – und der Fokus auf das gelegt, was den World Run schön und fröhlich und fein, aber auch einzigartig macht.

Denn das ist neben dem Inklusionsgedanken (Rollstühle gehören ganz selbstverständlich zum Lauf) und der Site-Running-Streckenführung durch die schönste Stadt der Welt auch der weltweit zeitgleiche Start bei etlichen organisierten "Flagshipruns" und zahllosen frei und nur mit der World-Run-App startenden Läuferinnen und Läufern.

Dem ist übrigens auch der Start um 13 Uhr geschuldet: Damit man in beispielsweise Lima nicht immer mitten in der Nacht losrennen muss, verschiebt sich die Startzeit jedes Jahr um eine Stunde.

Foto: Tom Rottenberg

Heuer, beim neunten Wings for Life World Run, starteten allein beim Wiener "Flagship-Run" weit über 10.000 Läuferinnen und Läufer. In ganz Österreich waren 37.274, weltweit 161.892 Menschen dabei. Über die Startgelder wurden so 4,7 Millionen Euro für die Forschung lukriert.

Der Sieger, Jo Fukuda, wurde im japanischen Fukuoka nach 64,4 Kilometern vom Catchercar eingeholt, die Siegerin, die Russin Nina Zarina, schaffte in Santa Monica (USA) genau 56 Kilometer.

In Österreich kam der Brite Tom Evans in Wien mit 63,4 Kilometern auf den weltweit fünftbesten Platz. Die Austro-Siegerin Kerstin Sprenger wurde mit 44,2 Kilometern insgesamt siebentbeste Frau.

Foto: Tom Rottenberg

Ich? Ich war am Sonntag mit immer noch müden Beinen und genau keinen Erwartungen an den Start gegangen: 15 oder 16 Kilometer würden schon drin sein – aber quälen wollte ich mich auf keinen Fall.

Aber ich hatte die Rechnung ohne die Stimmung gemacht: Wenn bei einem Bewerb alle das gleiche Ziel haben (in dem Fall: möglichst spät eingeholt zu werden), läuft man nach einigen Kilometern relativ rasch relativ homogen-gemeinsam im Pulk – und pusht sich gegenseitig.

Foto: Tom Rottenberg

Stimmung, Wetter und Strecke passten perfekt. Ringsum gab es fast nur lachende Gesichter. Und darauf, bei der Urania (zwischen Kilometer 15 und 16) dann auf das Catchercar zu warten, hatte ich nicht wirklich Lust – also trabte ich weiter. Die Pace, also die in Minuten pro Kilometer gemessene Geschwindigkeit, lag meist zwischen 5'05" und 5'10". Damit würde sich ab hier sogar trödelnd ein gemütlicher Halbmarathon noch ausgehen, bevor die Ziellinie von hinten daherkäme.

Nur wäre ich dann auf der Hauptallee knapp einen Kilometer vor dem Lusthaus und müsste von dort bis zum Stadion spazieren: Da könnte ich genauso gut laufen.

Foto: Tom Rottenberg

Mit ein Clou des World Run ist die Routenführung: Bei den ersten Läufen (damals noch in St. Pölten) war das Einsammeln und Zurückbringen der vom Catchercar aus dem Rennen genommenen Läuferinnen und Läufer ein logistischer Mega-Stunt.

In Wien ist die Strecke heute aber so angelegt, dass der überwältigende Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit der U-Bahn problemlos wieder zum Start kommt. Die letzte Station (U6 Neue Donau) liegt etwa bei Kilometer 31. Erst dann übernehmen Shuttlebusse.

Wie viel Prozent da statistisch noch im Rennen sein würden, hat sich sicher irgendwer vorab ausgerechnet – ich habe aber nie nachgefragt.

Foto: Tom Rottenberg

Unterwegs, knapp vor dem Praterstern, war mir das aber auch egal: Ich hatte jetzt 24 Kilometer am Tacho, nahm noch mal Tempo raus und genoss den Lauf. Die Sonne hatte sich wider Erwarten doch durch die Wolkendecke genagt – und ich war froh, meine Kappe bei k5 nicht meiner am Streckenrand stehenden Nachbarin in die Hand gedrückt zu haben.

Wie lange ich noch im Rennen bleiben würde? Keine Ahnung. Sicher nimmer lang. Aber als ich auf den Praterstern einbog, dachte ich, es wäre schon fein, es bis zur oder sogar auf die Reichsbrücke zu schaffen.

Foto: Rich Art Kapri

Das ging sich dann knapp nicht aus. Aber immerhin liefen wir schon den Brückenansatz rauf, als das Catchercar, die das Feld von hinten aufrollende Ziellinie, plötzlich neben und dann auch schon vor uns war.

Hatte der Wagen seine Fahrt fast im Schritttempo begonnen, war er jetzt längst zügig unterwegs und würde weiter beschleunigen: Die Nummer, auf der ganzen Welt Fahrzeuge zu koordinieren, die auf unterschiedlichen Strecken immer exakt gleich schnell unterwegs sein müssen, ist eines der vielen kleinen Zauberkunststücke dieses Laufes.

Foto: Tom Rottenberg

Aber jetzt gerade war das egal: Wir "hatten fertig" – aber den Blick von der noch ein paar Minuten lang autolosen Brücke über die Stadt und über den Fluss wollten wir uns gönnen. Den hatten wir verdient.

"Wir" hatten einander zuvor noch nie gesehen: ein paar Wiener Läuferinnen und Läufer – und Elena, eine seit zehn Jahren in Graz lebende Ukrainerin.

Als wir zum Scheitelpunkt spazierten, erzählte sie uns ihre Geschichte. Von ihrer Heimatstadt Odessa. Ihren Eltern, die immer noch in der Ukraine seien. Von der Angst. Aber auch davon, dass sie beschlossen habe, "positiv zu denken und zu leben – weil nur das die Kraft gibt, auch anderen zu helfen nicht zu verzweifeln".

Foto: Tom Rottenberg

Deshalb, sagte Elena und strahlte uns an, laufe sie. Für sich. Für die Hoffnung. Für den Frieden

Und für die, die nicht laufen können.

Die nicht weglaufen können.

Vor dem Horror, dem Krieg, den Albträumen.

Und plötzlich waren alles Strahlen, alles Lachen, alle Kraft weg.

"Wann hört das endlich auf? Wann?"

Das war nur ein Moment.

Aber Elenas Blick in dieser halben Sekunde werde ich nie vergessen.

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Startplatz wurde von Salomon spendiert, der Startbetrag aber selbstverständlich trotzdem gespendet.

(Tom Rottenberg, 10.5.2022)

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Foto: Tom Rottenberg