Bei Hochwasser in der Lagunenstadt Venedig – hier 2019 – werden mobile Stege aufgebaut, auf denen man den Markusplatz verhältnismäßig trocken überqueren kann.
Foto: Miguel Medina / AFP / APA

Man kennt sie schon, die mobilen hölzernen Stege vor Markusdom und Dogenpalast, auf denen Urlaubsgäste in Venedig Schlange stehen. Nicht weil es etwas umsonst gäbe, sondern um darauf trockenen Fußes die Plätze zu überqueren, vorbei an gotischen Bogengängen und mosaikverzierten Fassaden. Der Alltag in der Lagunenstadt wird seit Jahrhunderten von Ebbe und Flut – und Acqua alta, dem besonders hohen Wasserstand – beeinflusst.

Durch den massiven Einfluss der Industrie auf das Klima steht die Stadt aber vor einer neuen Dimension der Herausforderung: Das Salzwasser nagt an den ehrwürdigen Gemäuern und versenkt die Kunstschätze der legendären Stadt. Manche Fachleute wollen langfristig keine falschen Hoffnungen aufkommen lassen. "Venedig werden wir verlieren, das ist nicht umstritten", sagt der Physiker Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

70 Zentimeter Anstieg

Am Ende dieses Jahrhunderts dürfte der Wasserpegel der Stadt durchschnittlich um rund 70 Zentimeter höher liegen als der Basiswert des Zeitraums 1995 bis 2014. Das hält der Weltklimarat (IPCC) in seinem aktuellsten Sachstandsbericht für ein durchaus realistisches Szenario: Unter dem Modell mit dem sperrigen Namen SSP3-7.0 wären die CO2-Emissionen weiterhin relativ hoch. Bis zum Ende des Jahrhunderts würde sich die Erde im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um drei bis vier Grad erwärmen. Dieses Szenario für das Jahr 2100 dient auch für den Rest dieses Textes sowie die Grafiken als Referenz. Es könnte besser kommen, aber auch wesentlich schlimmer.

Das digitale Werkzeug der Nasa, das auf den aktuellsten Daten des IPCC beruht, visualisiert den künftigen Anstieg des Meeresspiegels.
Screenshot Nasa / IPCC AR6 Sea Level Projection Tool

Anschaulich macht das ein interaktives Werkzeug der Nasa, das auf Basis des neuen IPCC-Berichts die Prognosen darstellt. Die wissenschaftliche Grundlage des Sea Level Projection Tool ist also so verlässlich, wie es derzeit nur möglich ist, und beruht auf der Auswertung von tausenden Studien. Wenn man sich einzelne Küstenstreifen anschauen möchte, ist das Raster relativ grob, doch für einzelne Ortschaften – mit blauem Punkt markiert – ist der vorausgesagte Anstieg des Meeresspiegels angegeben.

70 Zentimeter mehr, das klingt im Vergleich zu bisherigen Hochwassermarken in Venedig nach wenig. Im Jahr 2019 trieb eine verheerende Sturmflut den Pegel in die Nähe der 1,90-Meter-Marke. Das letzte Mal, dass das Wasser ähnlich hoch stand, konnte man es noch nicht mit Smartphone-Kameras aufzeichnen – das war 1966, als das Hochwasser einen nie dagewesenen Höchststand erreichte.

Im Jahr 2019 kam der Wasserstand in Venedig auf den zweithöchsten Wert, der bisher gemessen wurde: Nachts erreichte er 183 Zentimeter über dem Normalstand.
Foto: Marco Bertorello / AFP / APA

Allerdings können Fluten bei einem höheren Grundpegel für vielfach schlimmere Folgen sorgen. Neue Maxima werden wahrscheinlicher, wie auch Extremereignisse, die früher lediglich einmal in 50 oder 100 Jahren vorkamen. Dazu zählen beim stetig schwankenden Wasserstand Venedigs auch besondere Trockenphasen, die wie kürzlich zu Tiefständen führen und den Personen- und Warentransport über die Kanäle behindern.

Sonderfall sinkende Spiegel ...

Extreme Trockenheit wird im gesamten Mittelmeerraum häufiger, neben Venedig kämpfen auch andere Küstenstädte mit dem hohen Meeresspiegel, etwa das ägyptische Alexandria. Dazu sei zudem gesagt: Die beschriebene IPCC-Prognose wird von einigen Forschenden als eher konservativ eingeschätzt. Andere rechnen mit weitaus höheren Werten – einem Meter bis zum Ende des Jahrhunderts oder mehr.

Neben saisonalen und Gezeitenschwankungen gilt außerdem, dass der Meeresspiegel nicht überall auf der Erde in gleichem Maß steigt. Auf der einen Seite stehen ungewöhnliche Ausreißer: In Schweden, Finnland und der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen steigt der Meeresspiegel zwar, doch gleichzeitig heben sich die Landmassen, und das in höherem Tempo. Seit 10.000 Jahren schmelzen dort immense Eisblöcke und sorgen für Landauftrieb. Im Modell bis 2100 folgt daraus ein Meeresspiegel, der effektiv bis zu einen Meter niedriger ist.

... und massiv höhere Pegel

Andererseits gibt es Regionen, die gleichzeitig mit einem Anstieg um 1,20 Meter – etwa die philippinische Hauptstadt Manila – oder um 1,40 Meter – New Orleans im Süden der USA – rechnen müssen. In der Stadt am Mississippi in unmittelbarer Nähe des Golfs von Mexiko zerstörte schon der Hurrikan Katrina vor 17 Jahren den Großteil der Gebäude, was vor allem sozial Benachteiligte hart traf.

Die Grafik, der die Visualisierung von Climate Central zugrunde liegt, zeigt die Region um New Orleans im US-Bundesstaat Louisiana. Die rot markierten Bereiche lägen beim im Text beschriebenen Szenario für 2100 unter Wasser. Schutzeinrichtungen wie Deiche und Mauern wurden miteinberechnet.
Grafik: Fatih Aydogdu, NASA IPCC AR6 Sea Level Projection Tool, MapTiler, OpenStreetMap contributors, Climate Central, Google Earth / Landsat / Copernicus Data SIO / NOAA / U.S. Navy / NGA / GEBCO

Mit Blick auf die Zukunft gibt es Studien, die die weitere Entwicklung simulieren – und anschauliche Onlinewerkzeuge, wie sie etwa die NGO Climate Central zur Verfügung stellt. Sie demonstrieren: Wie könnte die Stadt aussehen, wenn der Wasserspiegel durchschnittlich um die prognostizierten 1,40 Meter höher läge? Wie, wenn sich die globale Erwärmung auf zwei oder drei Grad beschränken lässt – oder diese übersteigt? Wie viel bliebe von Liberty Island übrig, wo die Freiheitsstatue thront? Wie hoch müssten die Mauern sein, um sie zu schützen?

So könnte der Climate-Central-Simulation zufolge die Freiheitsstatue 2100 (rechte Bildhälfte) aussehen – im Vergleich zu heute (links).
Grafik: Fatih Aydogdu, Climate Central, Google Earth / Landsat / Copernicus Data SIO / NOAA / U.S. Navy / NGA / GEBCO

Denn dass man die symbolträchtige Dame ohne Schutzmaßnahmen absaufen lässt, ist unrealistisch. Der Küstenschutz errichtete auch um New Orleans bis zu neun Meter hohe Deiche, um die Bevölkerung vor verstärktem Wassereinlauf abzuschirmen. Konstruktionen, die auf den Karten von Climate Central zumindest für die USA in die Meeressimulationen einberechnet wurden.

Karten unter Vorbehalt

In anderen Weltregionen sind die markierten Landflächen auf den Karten, die dem Anstieg zum Opfer fallen, mit Vorsicht zu genießen. In Norddeutschland etwa wird der Großteil der weitläufigen Zonen, die bei einer globalen Erwärmung um rund drei Grad markiert werden, jetzt schon durch Deiche vor Flut geschützt, wie der Küstenklimaforscher Ralf Weisse vom Helmholtz-Zentrum Hereon nahe Hamburg erläutert. Das zeigt etwa eine interaktive Grafik des Norddeutschen Küsten- und Klimabüros.

Beim Kartenmaterial von Climate Central ist Vorsicht geboten: Diese rot markierten Küstenbereiche in Europa beispielsweise werden 2100 nicht komplett unter Wasser stehen, da sie bereits heute unter anderem durch Deiche geschützt sind. Sie befinden sich lediglich unterhalb dem Niveau von 70 Zentimetern über null.

Hier verdeutlichen die Bilder der Plattform also nicht, welche Bereiche permanent überflutet sein werden – sondern vielmehr, in welchen Regionen künftig mit erhöhter Gefahr und Anpassungen gerechnet werden muss, um hohen Pegelständen und Sturmfluten auch künftig zu trotzen. "Richtig ist natürlich, dass die Anforderungen an den Küstenschutz mit steigendem Meeresspiegel größer werden", sagt Weisse.

Mobile Fluttore vor Venedig sollen die Hochwassergefahr reduzieren.
Foto: EPA/ANDREA MEROLA

Venedig nutzt seit zwei Jahren das Schutzsystem Mose: gelbe Fluttore, die die Lagune bei Hochwassergefahr vom Meer abschirmen. Dies bringt freilich nicht nur Vorteile. Ist die Abschirmung längerfristig nötig, wird beispielsweise regional die Wirtschaft und die Balance des Ökosystems beeinträchtigt.

Schneller als gedacht

Weltmeister des Küstenschutzes dürften die Niederlande sein. Seit Jahrhunderten kümmert man sich um die Polder, also unterhalb des Wasserspiegels gelegene Gebiete. Hier ist im IPCC-Szenario bis 2100 ebenfalls mit einem durchschnittlichen Anstieg des Meeresspiegels um 70 Zentimeter zu rechnen. Anderswo muss passende Expertise erst entwickelt werden. In London etwa, wo das Wasser ähnlich stark steigen wird. Der Stadthöhe nach zu urteilen würde dann ohne Schutzmaßnahmen das Wasser auch im Buckingham Palace stehen.

Geht es rein um das Stadtniveau und nicht um Schutzwälle, so stünde bis zum Jahr 2100 Wasser im Buckingham Palace in London – bei einem durchschnittlichen Anstieg des Pegels um etwa 70 Zentimeter, der mit einem Temperaturplus von drei bis vier Grad einhergehen würde. Schon bei plus 1,5 Grad wären weite Teile der Innenstadt vor Fluten nicht gefeit.
Grafik: Fatih Aydogdu, Climate Central, Google Earth / Landsat / Copernicus Data SIO / NOAA / U.S. Navy / NGA / GEBCO

Das große Problem, vor dem selbst versierte Terraformer und Ingenieurinnen stehen, ist nämlich: Die Veränderung kommt schneller, als das in den vergangenen 2.000 Jahren der Fall war. Auch wenn in den vorangegangenen Jahrtausenden durch massive Eisschmelzen der Pegel in Extremfällen um bis zu vier Meter pro Jahrhundert stieg – heute sind die Küsten so stark bebaut und bewohnt wie nie zuvor. Der Wandel beeinflusst nun also ungleich mehr Menschen. Betrug der Meeresanstieg zwischen 1901 und 1971 weltweit durchschnittlich 1,3 Millimeter pro Jahr, ist die entsprechende Rate seit 2006 fast dreimal so hoch. Tendenz: steigend.

Menschliche Probleme

Eine weitere Hürde bei der Problemlösung ist die menschliche Wahrnehmung. Sie lässt uns glauben, bis zum Jahr 2100 wird ohnehin noch viel Wasser die Donau hinunterfließen – oder an die Küstenufer gespült werden. In familiären Dimensionen gesprochen ist das aber nicht allzu weit entfernt. Wenn jemand 2022 ein Kind bekommt, wird dieses die Folgen des starken und rapiden Anstiegs des Meeresspiegels sein ganzes Leben lang mitbekommen.

Vor den Meeresschutzmauern der Stadt Jakarta liegt eine Moschee, die bereits aufgegeben wurde. Die Region wird nicht nur durch die globale Erwärmung vor Herausforderungen gestellt, sondern auch durch das noch schnellere Absinken der Stadt.
Foto: Agung Fatma Putra / Zuma Press / imago

Vor allem wenn es im globalen Süden zur Welt kommt. In der indonesischen Stadt Jakarta, deren Einzugsgebiet Heimat für rund 34 Millionen Menschen ist, üben Überflutungen jetzt schon enormen Druck aus. Erschwerend kommt dort das Absinken des Bodens hinzu. Denn aus dem nachgiebigen Erdboden wird Grundwasser abgepumpt, um die Bevölkerung mit Trinkwasser zu versorgen – legal, aber auch über illegale Brunnen. Das geht noch schneller vonstatten als der Anstieg des Meeresspiegels. Grund genug für die indonesische Regierung, die bisherige Hauptstadt zu wechseln – oder, besser, eine komplett neue Hauptstadt mit Namen Nusantara auf der Insel Borneo zu schaffen.

Folgen für Binnenländer

In finanziell und industriell schwachen Staaten sind Schutzmaßnahmen schwieriger umzusetzen. Insbesondere auf Inseln geht es oft um ein Ausweichen. Auf den Malediven geht die IPCC-Prognose von einem Anstieg um mehr als 70 Zentimeter bis 2100 aus, wie auch auf den Inseln von Kiribati und Kap Verde. Wird es dort möglich sein, jede Insel aufzuschütten – oder, wie teilweise geplant, schwimmende Städte zu errichten? Wie zielführend sind Schutzwälle? Welche Bereiche sind schützenswert – und wie hängt das mit touristischem und kulturellem Wert zusammen?

Auch diese Grafik wurde auf Basis der Visualisierung von Climate Central erstellt; auf der Website sind Inselbereiche, die heute noch begehbar sind, aber bereits blau unterlegt. Die rot markierten Bereiche liegen bei einem Anstieg des Pegels um rund 70 Zentimeter unter dem Niveau des Meeres. Hier wurden – im Gegensatz zur Karte von Louisiana – allerdings keine Schutzeinrichtungen berücksichtigt.
Grafik: Fatih Aydogdu, NASA IPCC AR6 Sea Level Projection Tool, MapTiler, OpenStreetMap contributors, Climate Central, Google Earth / Landsat / Copernicus Data SIO / NOAA / U.S. Navy / NGA / GEBCO

Letzten Endes werden die Entwicklungen selbst Binnenländer wie Österreich stark beeinflussen – nicht nur, weil ein Urlaub im Inselparadies oder ein Kurztrip in die malerische Küstenstadt nicht mehr derselbe sein wird. Sondern auch in Bezug auf die Verantwortung gegenüber Gemeinschaften, deren Natur- und Kulturerbe vom vergangenen und heutigen Handeln abhängt und gerettet werden soll – wie die Leben der Menschen, die ihr Zuhause verlassen müssen. (Julia Sica, 14.5.2022)