
"Warum gibt es keinen Lehrling, keine Friseurin in dem Gremium?", fragt sich Neo-Publikumsrat Wolf Lotter. Und: "Warum sind im Publikumsrat des ORF vor allem Menschen, die Sendungen klassisch im linearen Fernsehen schauen?"
Wien – Wolf Lotter ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins "Brand eins". Der Autor, Essayist, Vordenker und Redner widmet seine Bücher Unterschieden ("Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird"), Zusammenhängen ("Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen") und Innovation, einer "Streitschrift für barrierefreies Denken". Und seit Donnerstag ist Lotter Mitglied des ORF-Publikumsrats. Warum das?
"Letztlich ein politisches Mandat"
Die einfache Antwort: Das Neos Lab hat ein Mandat zu vergeben, schrieb es aus, und Lotter hat sich beworben und einem Hearing gestellt. Aber das, räumt er im Gespräch mit dem STANDARD ein, beantwortet die grundsätzliche Frage noch nicht: "Warum bin ich da reingegangen als Parteiloser, trotz aller Bedenken, auf einem letztlich politischen Ticket?" Die Antwort fällt, nicht ganz überraschend, noch viel grundsätzlicher aus – und klingt nach einer Erprobung von Überlegungen zur Partizipation, zur Teilhabe im Jahr 2022 an der hier noch fortlebenden Praxis des 20. Jahrhunderts.
Den ORF-Publikumsrat besetzt mehrheitlich die Medienministerin aus Vorschlägen von Organisationen, die – laut Gesetz – repräsentativ für gesellschaftliche Gruppen sein sollen. Rundfunkrechtler Hans Peter Lehofer hat zuletzt darauf hingewiesen, dass der Verein Academia Superior – Gesellschaft für Zukunftsforschung eher nicht repräsentativ für Hochschulen ist (im Gegensatz zur Universitätenkonferenz, die mit ihrem Dreiervorschlag nicht durchkam) und der Fundraising-Verband Austria eher nicht für Konsumenten. Die übrigen Mandate besetzen Kammern, Gewerkschaften, Kirchen (katholisch und evangelisch), Akademie der Wissenschaften und Parteiakademien direkt.
"Wer behauptet denn, wen vertreten zu können?"
Ein Modell der Vertretung durch gesellschaftliche Gruppen aus dem 20. Jahrhundert, findet Lotter. Es brauche "andere Vorstellungen von Partizipation und von Bürgerinnen und Bürgern organisierte Teilhabe" – etwa um das Publikum des ORF zu vertreten. Das sei keine Kritik an der Qualität der bestellten Menschen, betont Lotter, und es gehe da nicht alleine um den Bestellungsmodus, sondern um die Frage: "Wer behauptet denn, wen vertreten zu können?"
"Ich würde mir wünschen, dass man nicht mehr Diskussionen führen muss, welche Leute die Medienministerin in den Publikumsrat schickt", sagt Lotter. Qualifizierte Kandidaten würden sich dagegen verwehren, dass ihre hohe persönliche Integrität mit dem Generalverdacht infrage gestellt wird – "bestimmt eh alles nur die Partei".
"Persönliche Kompetenz über Parteidisziplin"
Aber in der Tat stimmt der ORF-Stiftungsrat bei zentralen Fragen häufig entlang von Parteigrenzen, entlang der "Freundeskreis" genannten Fraktionen im obersten ORF-Gremium ab. "Es wäre ein anderer Rundfunk, ein anderes Österreich, ein anderes Bewusstsein, wenn man eigenverantwortlich entscheidet und Entscheidungen nicht an die eigene Fraktion zurückspielt", sagt Lotter. "Wenn persönliche Kompetenz über der Parteidisziplin steht. Wenn nicht in informellen Zirkeln ausgemacht wird, was nicht öffentlich diskutiert wird. Wenn man die eigene Meinung nicht zurückstellt, weil man sonst womöglich berufliche, existenzielle Konsequenzen befürchten muss, weil die Partei oder der Verband etwas anderes sagt. Wo Mut sich auszahlt. Vielleicht muss auch mehr Starrsinn in Mode kommen – im Sinne von Eigensinn, nicht Sturheit. Das gehört für mich zu einer liberalen Demokratie."
Nachsatz: "Aber das braucht generell eine andere Kultur und nicht: Das haben wir immer schon so gemacht." Die Formel sei keine Spezialität des ORF, kein österreichisches Spezifikum: "Sehr komplexe Systeme neigen dazu, dass man es sich einfach macht."
Wie könnte man Gremien wie den Publikumsrat und den Stiftungsrat im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschicken? "Die größte denkbare Gruppe sind Individuen, selbstbestimmte, selbstständige Menschen mit Ansprüchen an Institutionen und an Medien" – nicht alleine den ORF, "es geht auch um Printmedien, Webmedien". Aber: "Wir sind noch nicht dort angekommen, wir schauen noch nicht mal in die richtige Richtung."
"Warum gibt es keinen Lehrling, keine Friseurin im Gremium?"
Wie sollte ein solches Gremium also beschickt werden? Die Neos haben schon ein Auswahlsystem per Los wie bei Schöffen vor Gericht vorgeschlagen. Lotter ist "mit der Meinungsbildung noch nicht so weit", um zu sagen, ob eine "Tombola" eine Lösung wäre. Er fängt lieber bei der Frage an: "Wer sind denn heute die Vertretungsorgane dieser Zivilgesellschaft? Klubs, Parteien, Vereinigungen für Klima, Umwelt, Wirtschaft? Mit diesem etablierten Institutionenbild kommen wir auf keinen grünen Zweig." Und fragt: "Warum gibt es keinen Lehrling, keine Friseurin in dem Gremium? Warum sind im Publikumsrat des ORF vor allem Menschen, die Sendungen klassisch im linearen Fernsehen schauen?"
Grundfrage bleibe: "Sind diese Gremien überhaupt repräsentativ, ein Kundenrat? Da muss man Komplexität erschließen. Institutionen tendieren heute in der Transformation in eine Zivilgesellschaft, die ihre Autorität infrage stellt, dazu, Wirklichkeit zu reduzieren – und wenn sie sich nicht auf den Punkt bringen lässt, reagieren sie verärgert. Echte Diversität, Vielfalt und Unterschiedlichkeit kostet Zeit und Geld, zahlt sich aber aus – mit einem gerechteren System und einer gerechteren Programmgestaltung."
Diskussion über Bestellungen wird intensiver
Lotters Befund nach seiner ersten Sitzung im Publikumsrat? "Interessante, gescheite Leute." Aber, fügt er an, einige mit dem Zugang: "Bitte jetzt reden wir nicht über unangenehme Dinge, damit sie nicht noch unangenehmer werden." Kritik kam in dieser Sitzung am Bestellungsmodus für die Räte vor allem von Gewerkschaft und Arbeiterkammer – aber auch von Lotter.
Der sagt im STANDARD-Gespräch: "Das Thema 'Was ist der ORF, wie laufen Bestellungen dort?' ist damit nicht vorbei, das kommt nicht nur alle vier Jahre. Das bleibt und wird intensiver werden. Das Thema ist kein steinerner Gast im Sitzungssaal, der wird sich immer wieder melden." (fid, 10.5.2022)