Schwere Zeiten für Nehammer: Der Kanzler hat das Heft nicht immer in der Hand.

Foto: APA / Roland Schlager

Der Abgang verursachte Bitterkeit. Gemeint sind nicht etwaige Elisabeth-Köstinger-Fans, die einer der letzten Protagonistinnen aus dem inneren Kreis um Sebastian Kurz nachtrauern. Vielmehr ärgern sich ÖVP-Akteure, denen das Fortkommen der Partei auch nach dem Fall des einstigen Helden am Herzen liegt. Von einem "Foul" ist die Rede, und von einem "unfreundlichen Akt". Ein Abgeordneter urteilt: "Das war ein mieser Move von der Elli, das wollte Karl sicher nicht."

An sich war es kein Geheimnis, dass Köstinger unter Kurz' Nachfolger Karl Nehammer nicht bis zum Ende der Legislaturperiode Landwirtschafts- und Tourismusministerin bleiben wird. Doch entscheidend sind immer auch die Art und der Zeitpunkt solcher Schritte.

Die laufende Woche kam dem Kanzler und designierten ÖVP-Chef äußerst ungelegen, zumal schon eine andere Aufgabe wartete: die Vorbereitung auf den Parteitag am Samstag. Stattdessen war zu Wochenbeginn fieberhafte Suche nach neuen Regierungsmitgliedern angesagt. "Köstingers Rücktritt war ein Schock", sagt eine Nehammer-Getreue: "So etwas gehört sich nicht. Warum macht man das?"

Anschein der orchestrierten Aktion

Auf der Suche nach Antworten drängt sich ein Verdacht auf: Handelt es sich um eine gezielte Rache des Kurz-Lagers, das die eigene Entmachtung nicht verwunden hat? Am Sonntag trat Kurz via Interview in der "Kronen Zeitung" ins Rampenlicht, am Montag machte Köstinger Schlagzeilen. Auch für manche ÖVPler sieht der Ablauf der Ereignisse nach einer orchestrierten Aktion aus.

Andere in der Partei halten das hingegen für eine Verschwörungstheorie. Zwischen Kurz und Nehammer herrsche durchaus Einvernehmen, heißt es, der neue Kanzler sei ja auch nicht Schuld am Absturz des Vorvorgängers: "Es gibt keinen Grund für Revanche."

Viele Motive sind denkbar. Vielleicht hat wachsender Frust im Amt den Impuls für den jähen Abschied gegeben – Köstinger soll im Bauernbund, ihrer politischen Heimat, längst nicht mehr nur gut angeschrieben sein. Möglicherweise war es der 43-Jährigen auch einfach wichtig, selbst über den Abgang zu bestimmen, ehe es andere tun.

Der Kanzler als Passagier

"Nun ist Nehammer der Passagier", sagt der Politikanalyst Thomas Hofer. Statt das Heft selbst in der Hand zu haben, sehe sich der Kanzler in die Defensive gedrängt – "schon wieder".

Hofer spielt auf die Kalamitäten der vergangenen Wochen an. Erst verstrickte sich Nehammer in die sogenannte Cobra-Affäre. Unter anderem geht es um den Vorwurf, die Kanzlerfamilie spanne Polizeibeamte für Aufgaben abseits des Personenschutzes ein. Mit einer offenbar von Emotion getriebenen Reaktion habe Nehammer die Sache unnötig groß gemacht, findet Hofer.

Danach eckte er mit der zuvor schon von der SPÖ propagierten Idee an, Gewinne von Unternehmen mit Staatsbeteiligung zugunsten der Allgemeinheit abzuschöpfen, sofern diese aus Krisen wie der aktuellen Energieknappheit resultieren. Beim Wirtschaftsflügel der Partei kam der noch dazu mit Privatisierungskritik garnierte Vorschlag als Provokation an.

Was trotzdem für Nehammer spricht

Dazu gesellen sich Umfragewerte, die der SPÖ mittlerweile deutlich Platz eins ausweisen. Muss Nehammer bei der formellen Wahl als Parteichef am Samstag folglich ein peinliches Resultat fürchten? Der kollektive Überlebenstrieb spricht dagegen: Selbstzerfleischung würde die von der Aufarbeitung so vieler Korruptionsvorwürfe gebeutelte Partei nur noch stärker in den Abgrund reißen.

Und einen Auftrag hat der Nachlassverwalter der Kurz-Zeit bislang erfüllt. Die Landesparteien gaben Sebastian Kurz wohl nur deshalb auf, um die für ihre Interessen essenzielle ÖVP-Beteiligung an der Bundesregierung nicht zu verlieren. "Nehammer ist es immerhin gelungen, dass nicht alles auseinanderfliegt", sagt ein Parteiakteur.

Auch die aus der Not geborene Neuaufstellung wird Nehammer als Erfolg zu verbuchen versuchen. Die Dynamik nach Köstingers Rücktritt führte zu einer größeren Umbildung, bei der mit Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck eine weitere Kurz-Besetzung wich.

Geht es um Geschlechterparität, sieht das Ergebnis nach Old School aus: Zwei Frauen im Ministerrang gingen, ein Mann kam. Doch nach jener Machtlogik, die der ÖVP oft vorgeworfen wird, bietet sich ein differenzierteres Urteil an.

Natürlich musste Nehammer in der aktuellen Lage auf die Interessen der Bünde und Ländervertreter in der ÖVP Rücksicht nehmen – Kurz' relativ freie Hand resultierte weniger aus dem nach wie vor bestehenden Durchgriffsrecht als aus seiner Popularität als Heilsbringer. Dafür ist das Resultat bemerkenswert: Großer Gewinner des Umbaus ist mit Martin Kocher ein Minister, der aus keiner der schwarzen Seilschaften stammt. (Gerald John, 10.5.2022)