Ein stationär aufgenommener Psychiatriepatient schlich sich im Jänner aus dem Spital, auf der Rückfahrt attackierte er in einer Straßenbahn eine ihm unbekannte 58-Jährige.

Foto: Robert Newald

Wien – Herr B. muss sich wegen versuchter Vergewaltigung zwar vor einem Schöffensenat unter Vorsitz von Martina Hahn verantworten, der 19-Jährige ist allerdings kein Angeklagter, sondern ein Betroffener. Denn er leidet an einer seltenen Chromsonenanomalie, die durch eine organische Störung zu einer Intelligenzminderung führte, dazu kommen eine schwere Störung der Impulskontrolle und Zwangsstörungen, wie der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann ausführt. B. ist zusammengefasst also zurechnungsunfähig und kann strafrechtlich nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass er am 21. Jänner in einer Wiener Straßenbahn eine ihm unbekannte 58-Jährige aufforderte, "nach draußen zu kommen" und dort mit ihm "Sex zu machen", was er dadurch unterstrich, dass er die Frau an der Brust riss.

Für Staatsanwalt Wolfram Bauer ist das eine versuchte Vergewaltigung, Verteidiger Raoul Warnung sieht lediglich eine sexuelle Belästigung. Der Unterschied ist entscheidend: Denn die vom Sachverständigen empfohlene Einweisung B.s in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher kann vom Senat nur ausgesprochen werden, wenn eine Tat mit mehr als einem Jahr Haft bedroht ist.

"Das System ist kaputt"

Warnung zeichnet besonders der Laienrichterin und dem Laienrichter ein düsteres Bild der Zukunft seines Mandanten: "Am Papier ist der Maßnahmenvollzug ein tolles Konzept. In der Praxis schaut das leider ganz anders aus. Das System ist kaputt", ist er davon überzeugt, dass B. in einer Anstalt nicht adäquat behandelt, sondern einfach für lange Zeit verschwinden würde. Der Verteidiger will daher in jedem Fall zumindest eine nur bedingte Einweisung erreichen.

Dass dem Betroffenen selbst der Ernst der Lage nicht ganz bewusst ist, wird schon zu Beginn klar. "Ich bin schon seit drei Monaten hier und möchte so schnell wie möglich entlassen werden. Am besten heute", erklärt er der Vorsitzenden. Hahn will aber erst mit B. über sein Leben reden. Er erzählt, dass es seit dem Kindergarten immer wieder zu Problemen gekommen sei, da er seine "Wut" herauslassen müsse. Mit 17 wurde er zu fünf Monaten bedingt verurteilt, da er einer Nachbarin einen Stein nachwarf. Aktuell ist bei einem Bezirksgericht ein Verfahren wegen 20 Vorfällen anhängig: von Sachbeschädigung bis zu sexueller Belästigung – in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Versuche, ihn in Betreuungseinrichtungen unterzubringen, sind meist nach kurzer Zeit gescheitert, da es entweder auch dort zu Problemen kam oder keine Beschäftigungstherapie angeboten wurde – zuletzt lebte B. also bei seiner Mutter, die auch seine Erwachsenenvertreterin ist. "Was haben Sie dort den ganzen Tag gemacht?", will die Vorsitzende von B. wissen. "Nach dem Aufstehen fernschauen, Playstation spielen und frühstücken", erzählt der Betroffene.

Fallkonferenz nach zahlreichen Vorfällen

"Dann ist der Tag aber noch lang?" – "Wenn die Mama da ist, sind wir spazieren gegangen, wenn nicht, war ich daheim." Es gab wegen der zahlreichen Zwischenfälle nämlich bereits eine Fallkonferenz zwischen Familie, Betreuern und der Polizei, wo festgelegt wurde, dass er alleine die Wohnung nicht verlassen werde.

Am 20. Jänner wollte er das offenbar tun, es kam zu einem Streit mit der Großmutter, am Ende wurde er stationär in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgenommen. Einen Tag später schlich er sich von dort weg und wollte wieder heimfahren. Er bekam nach eigenen Angaben aber ein schlechtes Gewissen und nahm eine Straßenbahn zurück ins Spital.

In der Bim saß ein Ehepaar, das Opfer hatte den dreijährigen Enkel auf dem Schoß. Es kam zum inkriminierten Angriff, der Gatte konnte den Betroffenen wegzerren und die Fahrerin alarmieren, die die Polizei verständigte. B. flüchtete kurz, ließ sich dann aber widerstandslos festnehmen.

B. bestätigt auf Vorhalt seiner Aussage bei der Polizei, dass er mit der älteren Frau "Sex machen wollte". Und "eine Freundin" wolle. "Wozu brauchen Sie eine Freundin?", fragt Hahn. "Weil ich Kinder kriegen will." Bei anderer Gelegenheit erklärt B. aber auch, Frauen auf die Brüste zu greifen, um seine Wut herauszulassen oder um ihnen Angst zu machen. "Sex machen" definiert er mit: "Wenn man seinen Schwanz in ihren Hintern steckt."

Betroffener ist "zutiefst ehrlich"

Sachverständiger Hofmann erklärt in seiner Expertise auch, dass dem Betroffenen eine Laufbahn als Gebrauchtwagenhändler oder Politiker wohl verbaut ist. Denn: "Er ist zutiefst ehrlich. Seine Antworten haben null Kalkül", referiert er. Gleichzeitig ist er nur vorsichtig optimistisch: In der Untersuchungshaft habe B. zwar Depotspritzen bekommen und sich sein Zustand gebessert. Dennoch benötige er eine engmaschige Struktur, Betreuung und Behandlung, die am besten in einer Anstalt gegeben sei. Eine bedingte Einweisung sei "derzeit nicht empfohlen".

Dem Verteidiger stimmt Hofmann nicht ganz zu: Auch er konstatiert zwar "eine missliche Situation im Massnahmenvollzug". Allerdings gebe es auch positive Entwicklungen, verweist er auf Einrichtungen in Mauer-Öhling oder Graz, wo Patienten ohne Justizwachebeamte betreut würden. Warnung relativiert das in seinem Schlussplädoyer: Das seien zwar öffentliche Kliniken, aber dort gebe es kaum Plätze, und die Wartezeiten seien lang.

Den Wunsch nach einer bedingten Einweisung erfüllt der Schöffensenat dem Verteidiger nicht. B. wird nicht rechtskräftig nach Paragraf 21 (1) eingewiesen, aus Sicht des Gerichts habe es sich sehr wohl um eine versuchte Vergewaltigung und keine bloße Belästigung gehandelt. Da keine Betreuungskonzepte vorgelegt wurden, sei eine bedingte Einweisung nicht möglich, bedauert die Vorsitzende. (Michael Möseneder, 10.5.2022)