Im Gastblog gibt Vermögensberater Bernhard Führer einen Einblick in die historische Entwicklung von Ungleichheit und ihre gesellschaftlichen Folgen.

Blickt man auf einstige und derzeitige führende Nationen und deren Reservewährungen zurück, so war für die Niederlande und deren Gulden, Großbritannien und dessen Pfund sowie die derzeitige Weltmacht USA und deren Dollar der Aufstieg stark an Bürgerkriege oder Revolutionen gekoppelt. Im Anschluss an diese wurde eine neue Ordnung eingeführt, gefolgt von Frieden und Wohlstand. Darauf folgten große Ausgaben- und Schuldenexzesse sowie eine Zunahme des Chancen- und Wohlstandsgefälles, wodurch Konflikte entstanden, die ihrerseits zu Bürgerkriegen und Revolutionen beitrugen. Diese Phasen der innenpolitischen Ordnung verhalten sich über die Jahrhunderte betrachtet ähnlich und stellen daher die Frage, inwiefern der Faktor Wachstum automatisch zu sozialem Frieden beitragen kann.

Wachstum im historischen Kontext

Der traditionelle Ansatz der Ökonomie betrachtet Wachstum als etwas, das allgemein positiv ist. Wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in einem bestimmten Jahr um vier Prozent steigt, geht die Ökonomie implizit davon aus, dass es allen am Ende des Jahres besser gehen wird. Ein BIP-Wachstum von vier Prozent kann gleichmäßig über die Gesellschaft verteilt sein, aber es kann auch sehr ungleich verteilt sein, wenn ein Großteil an die Kapitalbesitzenden geht, während ärmere Haushalte weniger vom Wirtschaftswachstum profitieren.

Die Frage ist, wann zunehmende Ungleichheit in Aufstände oder heftige politische Gegenreaktionen mündet.
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Solche Entwicklungen lassen sich in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten beobachten: Kapitalbesitzende und hochqualifizierte Mitarbeitende haben überproportional von der Erholung nach der Finanzkrise profitiert. Das Ergebnis war eine höhere Einkommensungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten oder dem Einkommensanteil der obersten "ein Prozent". Wirtschaftsforschende wie Thomas Piketty argumentieren – vereinfacht gesagt –, dass dieser Vorteil der Kapitalisten und Kapitalistinnen gegenüber den Arbeitenden ein dauerhaftes Merkmal der Gesellschaft ist. Dabei gibt es viele historische Beweise für Abschnitte, in denen die Ungleichheit kleiner wurde. Solche Entwicklungen lassen sich insbesondere in Perioden beobachten, in denen Kriege, Pandemien, Revolutionen oder Systemzusammenbrüche durch zum Beispiel Naturkatastrophen stattfanden.

Bewegungen wie Occupy mit ihren globalen Auswirkungen auf die Politik haben vielen Menschen – auch Wirtschaftsforschenden sowie Anlegerinnen und Anlegern – die Augen für ein lange vernachlässigtes Thema geöffnet: Chancengleichheit und -ungleichheit als relevante Faktoren in vergangenen gesellschaftlichen Umbrüchen. Die ungleiche Verteilung beeinflusst das politische System, wenn Wohlhabende dazu tendieren, für ihre Nachkommen entsprechende Privilegien zu bewahren, wie etwa berufliche und gesellschaftliche Stellung oder höhere Bildung. Solch ein Verhalten steht in Verbindung mit einer größeren Kluft im Hinblick auf sozioökonomische Faktoren, politische Einstellungen, Entwicklungsmöglichkeiten und Werte zwischen begüterten und weniger begüterten Menschen. Daraus kann eine Gefährdung für den sozialen Frieden entstehen, die aber, solange der Lebensstandard noch einigermaßen steigt, nicht unmittelbar in Konflikte übergehen muss.

Wann ist der Bogen überspannt?

Die Frage ist, wie stark Ungleichheit zunehmen kann, bevor Aufstände ausbrechen oder heftige politische Gegenreaktionen in Form einer extremen Umverteilung umgesetzt werden. Dabei gilt es zu bedenken, dass es historische Situationen gab, die die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse übertrafen – so war zum Beispiel zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vermögensungleichheit in Europa und in den USA weitaus größer als heute.

Seit den 1980er-Jahren ist eine stetige Zunahme der weltweiten Ungleichheit zu beobachten. Seither ist die reale Kapitalrendite deutlich höher als die reale risikofreie Rendite – ein wesentlicher Faktor für die jüngste Zunahme der Vermögensungleichheit. Und obwohl die reale Kapitalrendite seit der globalen Finanzkrise etwas zurückgegangen ist, bleibt die Lücke außergewöhnlich groß. Solange die Lücke zwischen der realen Rendite riskanter und risikoloser Anlagen in diesem Ausmaß bestehen bleibt, ist von einer Zunahme der Ungleichheit auszugehen.

Von welchem "einen Prozent" reden wir?

Oft wird über Ungleichheit gesprochen und wie unfair es sei, dass einige Personen Millionen verdienen, während andere Menschen darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Eines der bestimmenden Merkmale der politischen Debatte nach der globalen Finanzkrise ist dabei die Zunahme des Wohlstands- und Chancengefälles, welches sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern zu beobachten ist.

Dabei konzentriert sich die Diskussion meist auf das oberste "ein Prozent", wobei nicht immer klar ist, was damit gemeint ist. Das oberste Prozent der Einkommensspitzenreiter besteht nicht aus denselben Personen wie das oberste Prozent der Vermögensbesitzenden. Zwar führen sowohl die Einkommens- als auch die Vermögensungleichheit zu sozialen Spannungen, aber die Vermögensungleichheit ist besonders besorgniserregend, da sie sich selbst aufrechterhalten kann. Wirft man einen Blick auf die Vergangenheit, so war weder die Gleichheit noch die Ungleichheit von Einkommen oder Vermögen ein erstrebenswertes Ziel für die Gesellschaft.

Stattdessen sollte Chancengleichheit angestrebt werden, damit jeder Mensch sein Potenzial ausschöpfen kann. Das heißt auch, zu bedenken, dass Lebensverhältnisse durch viele zufällige Variablen – etwa den Geburtsort – beeinflusst werden und nicht lediglich mit Begabungen und Fähigkeiten zu tun haben. (Bernhard Führer, 27.7.2022)