Taisiia lebte mit ihrer Familie in der Region Luhansk in der Ostukraine. Am 17. März 2022 ist sie mit ihrem Sohn Tymur (13) nach Wien geflüchtet.

Foto: www.corn.at / Heribert Corn

Am 8. Mai 2022 erschien im STANDARD in der Zeitung und online eine Geschichte über das neue Leben ukrainischer Mütter in Österreich. In einer vierteiligen Serie schildern die Vertriebenen nun, wie sie den Krieg in der Ukraine miterlebten, und sprechen über die traumatische Flucht.


Taisiia (36), Ingenieurin aus Sjewjerodonezk

"In der Ukraine leben wir ein ruhiges und glückliches Leben. Mutter, Vater, Kind und Katze. Mein Mann und ich arbeiten in der Stadt, unser Sohn besucht das Gymnasium. Wir sind eine ganz normale Familie. Wir haben auch viele Hobbys. Zur Entspannung stricke und puzzle ich gerne. Mein Sohn geht fast jeden Tag ins Boxtraining. Nahe der Stadt gibt es einen wunderschönen Kiefernwald. An den Wochenenden gehen wir dort alle gemeinsam spazieren – oder wir fahren aufs Land in unser kleines Ferienhaus. Es gibt einen schönen Garten, ich pflanze Gemüse und Blumen. Wir treffen oft Verwandte und Freunde. Wirklich sehr idyllisch. Aber all diese Dinge sind nur noch eine Erinnerung für mich: Unser kleines Haus und unsere Wohnung in Sjewjerodonezk wurde von den Russen zerbombt. Die ganze Stadt wurde zerstört. Wir haben alles verloren.

"Für die Evakuierung musste man viel Geld bezahlen"

Seit 25. Februar wird unsere Stadt ununterbrochen bombardiert. Meine Familie und ich haben Dinge erlebt und gesehen, die wünsche ich niemanden. Als die Russen unser Land angriffen, ist völliges Chaos ausgebrochen. Die Apotheken waren zu, die Menschen in den Supermärkten haben um Lebensmittel gestritten. Irgendwann gab es einfach kein Essen mehr zu kaufen. Es gab nur noch Freiwillige, die uns Lebensmittel brachten. Gott sei Dank hatte ich ein paar Lebensmittel vorrätig zu Hause. Was allerdings fast unmöglich war: Medikamente zu bekommen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie russische Soldaten Minen legten, damit sich Zivilisten in der Stadt nicht mehr frei bewegen konnten.

Ich konnte nachts kaum schlafen, weil ich nicht wusste, ob wir die Nacht überhaupt überleben. Ich habe meinem Sohn gesagt, dass wir in unserer Tageskleidung schlafen müssen, um für eine schnelle Flucht bereit zu sein. Die Nächte waren so unglaublich laut, ständig hörte man die Sirenen, Bomben fielen, Schüsse, Menschen schrien. Oft mussten wir zehnmal pro Nacht aufstehen, um uns vor einer Rakete zu schützen. Aber auch tagsüber wurden laufend Bomben auf unsere Stadt abgeworfen. Die Angst, die man in diesem Moment hat, ist kaum in Worte zu fassen. Dass dem eigenen Kind etwas passieren kann, dass einem selbst etwas passieren kann und das Kind dann allein ist, schrecklich. Ich denke, das kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat.

Vor dem Krieg habe ich bereits alle wichtigen Dinge in einem Koffer gesammelt: Medikamente, Dokumente, Kleidung und Ersparnisse. Wenn ich einmal eine Internetverbindung hatte, versuchte ich im Internet einen Transfer für eine Evakuierung zu finden. Der öffentliche Verkehr wurde komplett lahmgelegt. Einige brachten mit ihren privaten Bussen Menschen aus der Stadt. Aber dafür musste man viel Geld zahlen. Geld, das ich nicht hatte. Und die Wartezeit auf so einen Platz im Bus war teilweise zwei bis drei Wochen. Ich selbst habe keinen Führerschein und konnte mir die Fahrt für mich und meinen Sohn nicht leisten. Wir waren gefangen. Ich wusste nicht, wie wir wegkommen.

"Die Züge waren völlig überfüllt"

Es war der 12. März. Meine Bekannte arbeitet bei der Rettung und bat mir an, uns mit dem Rettungswagen zu evakuieren. Ich bin mit meinem Sohn aus dem Wohnhaus zum Rettungswagen gelaufen und wir wurden von russischen Soldaten beschossen. Sie haben auf Zivilisten geschossen und auf den Rettungswagen. So was passierte ständig. Es ist ein Wunder, dass wir noch leben. Der Rettungswagen brachte uns in ein Dorf nach Donezk. Mein Mann blieb zurück.

Als ich mit meinem Sohn in Donezk ankam, mussten wir die Nacht im Freien verbringen. Es war sehr kalt. Gott sei Dank hat uns ein Mann mit dem Auto nach Kramatorsk gebracht, von wo aus ein Evakuierungszug nach Uschgorod im Westen der Ukraine ging. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, was unser Ziel ist, wir wussten einfach nur, dass wir hier wegmüssen. Der Bahnhof war so vollgestopft mit Menschen, jeder wollte weg, alle in Panik. Es war schwer überhaupt einen Platz zu bekommen. Im Zug konnten nur die Kinder, alte und kranke Menschen sitzen, die Erwachsenen standen eng aneinandergereiht auf den Gängen.

In Uschgorod haben wir dann alles versucht, eine Wohnung zu finden. Wir haben gefragt, telefoniert, recherchiert. Wieder mussten wir eine Nacht am Bahnhof in Uschgorod verbringen, es war eiskalt. Ich machte mir große Sorgen um meinen Sohn. Es war ein schreckliches Gefühl, dass man im eigenen Land keinen sicheren Platz mehr bekommt. Bekannte haben mir dann empfohlen, ins Ausland zu fahren und es dort zu versuchen. Ich war allerdings noch nie im Ausland, schon gar nicht allein. Ich bin mit meinem Sohn weiter in die Slowakei gefahren, dort mussten wir wieder eine Nacht im Freien verbringen, erst dann ging ein Bus weiter nach Wien.

Nach einer viertägigen Flucht sind wir um drei Uhr morgens endlich am Hauptbahnhof in Wien angekommen. Dort habe ich über eine Organisation Sandra kennengelernt, die uns mitten in der Nacht in ihrer Wohnung aufnahm. Ich kann mich nicht mal mehr an diesen ersten Moment erinnert. Ich war nach diesen vier Tagen auf der Flucht so müde, dass ich fast umgefallen bin. Ich weiß nur noch, dass das Bett, in dem wir in dieser ersten Nacht in Wien schliefen, so sauber und bequem war. Ich weiß noch, wie sicher ich mich fühlte. Ich bin so glücklich, dass ich Sandra kennenlernte. Sie ist ein Engel. Sie hat alles für uns gemacht: Sie hat gekocht, uns Kleidung organisiert, einen Schulplatz für Tymur und noch vieles mehr. Dabei ist sie selbst Alleinerzieherin einer fünfjährigen Tochter.

Taisiia und ihr Sohn leben im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Die Wohnung wurde ihnen kostenlos von einer Familie zur Verfügung gestellt.

"Meine Eltern sitzen seit Wochen in einem Bunker"

Mittlerweile wohnen mein Sohn und ich in einer eigenen kleinen Wohnung hier in Wien, die uns eine Familie zur Verfügung gestellt hat. Wir besuchen mehrmals die Woche einen Deutschkurs, mein Sohn kann wieder zum Boxtraining. Dafür sind wir sehr dankbar. Dennoch vergeht kein einziger Tag ohne Angst und Sorge.

Das Leben hier in Österreich ist eine große Herausforderung. Ich bin mit genau 60 Euro in der Tasche nach Österreich gekommen. Englisch oder Deutsch spreche ich nicht. Ich habe Angst, keinen Job zu finden. Wie soll ich mich dann um meinen Sohn kümmern? Dazu kommt die Sorge um meinen Mann, der irgendwo im Donbass kämpft und zu dem ich wenig Kontakt habe. Noch schlimmer ist das alles für meinen Sohn. Er und mein Mann stehen sich sehr nahe. Sie sind wie gute Freunde. Er denkt, dass wir bald zurückkönnen und wieder unser altes Leben leben. Noch dazu hat er sich kurz vor dem Krieg in ein Mädchen verliebt. Seine erste große Liebe. Sie ist noch in der Ukraine. Ich habe es lange noch nicht geschafft, ihm zu sagen, dass unsere Wohnung und unsere gesamte Stadt zerstört wurde. Dass es unser altes Leben nicht mehr gibt. Jeder, der Kinder hat, kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, dem eigenen Kind eine solche Nachricht zu überbringen. Er wird noch lange brauchen, um das zu akzeptieren. Meine Mutter ist sehr krank, sie konnte die Strapazen der Flucht nicht auf sich nehmen. Nun sitzen meine Eltern seit Wochen in einem Bunker, sie haben nicht einmal etwas zu essen. Nur hin- und wieder kommt humanitäre Hilfe und kann das Nötigste bringen.

Und zeitgleich ist da meine Schwester. Sie lebt in Russland und ist eine Anhängerin Putins. Sie glaubt alles, was dort in den Medien gesagt wird. Sie hat mich richtig beschimpft und ganz schlimme Dinge am Telefon gesagt. Ich kann oft gar nicht fassen, dass die Menschen in Russland wirklich so einer Gehirnwäsche unterzogen werden, während in der Ukraine Kinder umgebracht werden. Das alles macht mich oft hoffnungslos, obwohl die Hoffnung das Einzige ist, das wir noch haben." (Protokoll: Nadja Kupsa, 17.5.2022)