Der offene Brief, in dem sich zahlreiche deutsche Intellektuelle in Alice Schwarzers Zeitschrift Emma gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausgesprochen haben, ist in der Politik auf breite Ablehnung gestoßen. Aber die Kernbotschaft der Unterzeichner, dass eine Fortsetzung des Krieges schlimmer ist als eine dauernde russische Besatzung der Ost- und Südukraine, sickert langsam in das Denken westlicher Entscheidungsträger ein. Und das ist eine höchst problematische Entwicklung.

So forderten der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am Europatag am Montag nicht etwa einen Rückzug der russischen Truppen, sondern eine sofortige Waffenruhe, gefolgt von Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew. Diese dürften nicht in einen "Diktatfrieden" münden, hieß es; aber ganz ohne territoriale Kompromisse, klang durch, werde es nicht gehen.

Nun scheint Wladimir Putin derzeit das Gegenteil zu verfolgen, nämlich weitere Offensiven im Donbass und an der gesamten Schwarzmeerküste. Aber angesichts der eklatanten Schwächen seiner Armee, die auch im Osten feststeckt, könnte recht bald der Tag kommen, an dem der Kreml eine Waffenruhe anbietet, während er immer noch mehr als ein Zehntel des Staatsgebiets hält.

Die Ukrainer haben eine reelle Chance, Russland zu besiegen.
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Dass Moskau am Verhandlungstisch bereit wäre, besetzte Gebiete im größeren Umfang aufzugeben, ist unwahrscheinlich. Die Folge eines Waffenstillstands wäre daher ein eingefrorener Konflikt, wie der Kreml ihn auch in anderen Ländern pflegt. Während Russland dann von Frieden spricht und diesen im Geheimen untergräbt, wäre es die Ukraine, die mit neuen Kampfhandlungen versuchen würde, verlorenes Gebiet zurückzuerobern.

Verlogener Frieden

Sie hätte jeden Grund dazu. Eine dauerhafte Besetzung der Ost- und Südukraine wäre ein massiver Bruch des Völkerrechts und würde Millionen Ukrainer vor die Wahl stellen, unter einer brutalen russischen Herrschaft oder als Flüchtlinge zu leben. Die Ukrainer haben ein Recht, ihr Land zu befreien, sie haben den Willen dazu, und sie haben eine reelle Chance. Denn was ihnen im Kampf gegen Putins Armee am meisten fehlt, sind schwere Waffen und Munition. Diese muss der Westen ihnen ohne Einschränkungen liefern, statt einen verlogenen Frieden einzufordern.

Dass ein langer Krieg, wie ihn auch US-Analysten voraussagen, noch viel menschliches Leid verursachen wird, ist klar. Aber es gibt keinerlei Hinweise, dass die überwiegende Mehrheit der Ukrainer den Kampf nicht fortsetzen will. Der Vorwurf westlicher Pazifisten, Präsident Wolodymyr Selenskyj würde sie dazu zwingen, ist zynisch. Er könnte das gar nicht, denn die hohe Motivation der Truppen und der Zivilisten ist die stärkste Waffe seines bedrängten Landes.

Es liegt an den Ukrainern zu entscheiden, wann sie die Waffen gegen den Aggressor niederlegen. Weder die Sorge im Westen in Bezug auf die Energieversorgung, die Teuerung oder die Konjunktur noch die Angst vor einem Atomkrieg sind ein Grund, Kiew zu fragwürdigen Zugeständnissen zu drängen.

Wer echten Frieden will, muss darauf hoffen, dass die russischen Truppen dank ukrainischen Kampfgeists und westlicher Waffen bald zurückgedrängt werden. Russland braucht den Donbass nicht, die Ukraine sehr wohl. Jeder andere Ausgang bedeutet einen Krieg ohne Ende. (Eric Frey, 12.5.2022)