Finanzminister Magnus Brunner muss jetzt Verbündete suchen.

Foto: Imago Images / Michael Indra

Wien – Der Koalitionspoker um die sogenannte kalte Progression ist eröffnet: Der um die Digitalisierungsagenden angereicherte Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) möchte die inflationsbedingten schleichenden Einkommensteuererhöhungen gleich ab 2023 abschaffen. Das kündigte Brunner am Mittwoch im Rahmen der vom Finanzministerium abgehaltenen Diskussionsveranstaltung "Finanzdialog" an – im Beisein des schweizerischen Finanzministers Ueli Maurer.

Ein herzeigbares Konzept für das nicht unkomplizierte Unterfangen liege noch nicht vor, räumte Brunner auf Nachfrage des STANDARD ein. Es soll aber bis zum Sommer detailliert ausgearbeitet sein. Es sei noch nicht klar, welche Progressionsstufen ein Gebot der Fairness, dass sich der Staat angesichts hoher Energiekosten und der dadurch getriebenen Inflation nicht bereichere. "Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, und ich glaube auch, dass es mehrheitsfähig wäre", sagte Brunner mit Verweis auf die notwendige Zustimmung im Nationalrat.

Koalitionäre Abstimmung

Womit der wichtigste Punkt adressiert wäre: die Zustimmung der Grünen. Die Abstimmung mit dem Koalitionspartner hat noch nicht einmal begonnen. Die Grünen standen einer solchen Maßnahme bisher eher reserviert gegenüber, führt die angestrebte automatische Inflationsanpassung der Steuerprogressionsstufen an die Teuerungsrate doch zu erheblichen fiskalischen Mindereinnahmen – und damit sinkt der politische Spielraum zum Umverteilen. Auch profitieren vor allem Besserverdiener

Von einer Inflationsrate von zuletzt 2,5 Prozent wie in der Schweiz kann Österreich nur träumen.
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Die Politik beraubt sich damit also eines wichtigen Teils ihres Handlungsspielraums, der Setzung von Akzenten, wie es Brunner ausdrückt. Angesichts der Kosten der Corona-Krise, einer Staatsverschuldungsquote von 80 Prozent und steigender Anleihezinsen ist der Spielraum ohnehin überschaubar.

"Spielraum schafft man sich durch solides Haushalten", mahnt der Direktor des Thinktanks Agenda Austria, Franz Schellhorn.

Fast eine zweite Steuerreform

Fest steht, dass mit der Abschaffung der kalten Progression Milliardensummen bewegt werden. Auf neun bis elf Milliarden Euro taxiert Brunner das Volumen von 2022 bis 2026, also für einen Zeitraum von fünf Jahren.

Zum Vergleich: Das Volumen der stufenweisen Steuerreform (bis 2024) beläuft sich auf 15 Milliarden Euro. Die Größenordnungen zeigen also eindrücklich, dass sich die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen die von der Regierung regelmäßig verteilten Wohltaten wie Familien-, Kinder- oder sonstige Boni wiederkehrend selbst finanzieren.

Klar ist auch: Je höher das Einkommen, desto mehr profitieren die (Einkommen-)Steuerzahler von der Abschaffung der kalten Progression. Wer keine Lohn- und Einkommensteuer zahlt, bekommt logischerweise auch nichts rückerstattet.

Gestreckt oder reduziert

Brunners Amtskollege Ueli Maurer (SVP) lässt keinen Zweifel daran, dass der in der Schweiz 2011 eingeführte Stopp der kalten Progression ein Gebot der Stunde ist. Je nach Höhe der Inflationsrate wird der Steuersatz gestreckt oder reduziert, herangezogen wird die vorangegangene Jahresinflationsrate. Das alles gilt allerdings nur für Bundessteuern, jene von Kommunen und Kantonen sind nicht betroffen.

Automatisch valorisiert und somit gegengerechnet werden in dieser Logik auch die Sozialabzüge, was die Rückvergütung an kalter Progression naturgemäß schmälert. Da die Inflation bei den Eidgenossen im Vergleich zu den Euroländern fast mit der Lupe zu suchen ist – sie lag im April bei 2,5 Prozent –, war erst einmal im Jahr 2012 ein Ausgleich notwendig, sagt Maurer. "Wir haben also kaum Erfahrung mit diesem relativ jungen Instrument."

Nicht automatisch

Als Kompromiss böte sich an, die kalte Progression nicht dauerhaft zu streichen, sondern dies Jahr für Jahr zu beschließen, wie dies Finanzrechtsprofessor Werner Doralt empfiehlt. Auch Ökonomieprofessor Martin Kocher, im Brotberuf Arbeits- und Wirtschaftsminister, hatte zuletzt eher gegen einen Automatismus argumentiert.

Ökonom Karl Aiginger, einst Wifo-Chef, sieht Energiekostenhilfen und Abschaffung der kalten Progression gleichermaßen kritisch. Jede Verbilligung untergrabe die Klimaziele. Das gelte auch für die Millionensubventionen für fossile Treibstoffe. Das Klimaproblem müsse gleichzeitig mit der Energiekrise gelöst werden. Die Steuersätze seien hoch, daher brauche Energiesparen höchste Priorität. (Luise Ungerboeck, 11.5.2022)