US-Präsident Joe Biden will das Ruder vor den Kongresswahlen noch einmal herumreißen.

Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Der Präsident redete nicht um den heißen Brei herum. "Ich weiß, Sie müssen frustriert sein. Ich kann es spüren", sagte er in die Kameras. Seine Adressaten waren die Fernsehzuschauer im ganzen Land: "Frustriert durch die hohen Preise, den Stillstand im Kongress und die Zeit, die es dauert, bis irgendetwas umgesetzt ist. Glauben Sie mir: Ich verstehe die Frustration."

Es waren bemerkenswert offene Worte, die Joe Biden im Weißen Haus aussprach. Doch sind sie der Lage angemessen: Mit nur noch 42 Prozent Zustimmung ist er inzwischen fast auf dem Negativrekordniveau seines Vorgängers Donald Trump angekommen. Rund 52 Prozent der Amerikaner sind laut Umfragen mit seiner Arbeit unzufrieden.

Sein Großprojekt eines Sozial- und Klimapakets wurde stillschweigend beerdigt, die Wahlrechtsreform hängt im Kongress fest, von strengeren Waffengesetzen ist keine Rede mehr. Dafür stöhnt das Land unter einer Rekordinflation von 8,5 Prozent. Acht von zehn Bürgern kritisieren, dass die Regierung dagegen zu wenig tue.

Gegen Trump

Aus Sorge um die im Herbst anstehenden Kongresswahlen, bei denen den Demokraten ein Debakel droht, hat sich der Präsident deshalb für einen Strategiewechsel entschieden: Statt große Gesetzesvorhaben anzukündigen, für die er ohnehin keine Mehrheit findet, erklärte er diese Woche den Kampf gegen die Inflation zu seiner "obersten innenpolitischen Priorität".

Gleichzeitig versucht er die Wahlen zur Richtungsentscheidung zwischen seiner pragmatischen Politik und der Agenda der Trump-Republikaner zu machen, die er als "extremste politische Organisation in der amerikanischen Geschichte" bezeichnet. Biden wirft den "Ultra-MAGA-Republikanern" (nach Trumps Wahlkampfslogan "Make America Great Again") im Kongress vor, Gesetze bewusst zu blockieren und so die Enttäuschung der Wähler anzufeuern: "Sie tun alles, damit Sie ihnen die Macht übergeben und sie ihre extreme Agenda umsetzen können."

Lohnsteuer für alle

Als abschreckendes Beispiel dient dem Präsidenten der Reformplan des republikanischen Senators Rick Scott, der alle Gesetze über Sozialleistungen nach fünf Jahren auslaufen lassen und von sämtlichen Amerikanern Steuern auf ihre Einnahmen fordern will. Derzeit zahlen mehr als die Hälfte der Amerikaner – vor allem Geringverdiener und Pensionistinnen – aufgrund von Freibeträgen keine Lohnsteuer. "Hätte ich es nicht gelesen, würde ich sagen, dass das jemand erfunden hat", empörte sich Biden über den Scott-Plan, der freilich auch von Republikanern kritisiert wird. Zugleich warb er für sein Vorhaben einer Reichensteuer.

Die Inflation will er durch die bereits verkündete Freigabe von Ölreserven, die Beschleunigung des Frackings und den Ausbau der erneuerbaren Energien bekämpfen. Zudem sollen Engpässe in den Lieferketten abgebaut werden. Biden deutete auch an, dass er eine Abschaffung der unter Trump eingeführten Strafzölle auf Importe aus China erwägt.

Hoffnung auf Supreme Court

Ob das reicht, um den Frust der Wähler abzumildern, ist unklar. Eine zusätzliche Mobilisierung erhoffen sich die Demokraten durch das erwartete Urteil des Verfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht. Schon in wenigen Wochen könnte der Supreme Court das seit 50 Jahren geltende Urteil Roe v. Wade kippen. Danach dürften mehr als die Hälfte aller Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche de facto verbieten. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner für eine Beibehaltung des bisherigen liberalen Abtreibungsrechts eintritt.

Führende Demokraten haben die Garantie der Wahlfreiheit für Frauen daher zum wichtigsten Thema für die Midterm-Wahlen erklärt. "Ich bin wütend", erklärte etwa die linke Senatorin Elizabeth Warren bei einer Protestdemonstration. Ein "rechtsextremes Gericht" wolle den Frauen ihre Rechte nehmen: "Das dürfen wir nicht zulassen." Die Demokraten wollten nun das geltende Recht in einem Bundesgesetz festschreiben. Doch eine Abstimmung im Senat scheiterte. Das Vorhaben demonstrierte die Ohnmacht der Partei: Nicht nur die republikanischen Senatoren lehnten die Pläne ab, auch der demokratische Senator Joe Manchin aus dem konservativen Staat West Virginia stimmte mit Nein. (Karl Doemens aus Washington, 12.5.2022)