Der Politikwissenschafter Constantin Lager erklärt im Gastblog, warum es wichtig ist, sich dem Antisemitismus als gesamtgesellschaftlicher Herausforderung zu widmen.

Die sogenannten Anti-Maßnahmen-Demonstrationen hatten von Anfang an etwas Bizarres an sich. Tanzende Esoterikerinnen und Esoteriker mit Weihrauchschalen und Transparenten von Liebe und Frieden, gefolgt von Neofaschistinnen und Neofaschisten, die sich vor dem "großen Austausch" und vor George Soros fürchten. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine finden sich nun auch vermehrt russische Fahnen in ihren Reihen mit plakatierten Aufforderungen, die europäischen Sanktionen gegenüber Russland wieder fallenzulassen, wie etwa bei einer Corona-Demonstration am 1. Mai zu beobachten war. Begleitet wurden diese Demonstrationen, die ein sehr heterogenes Publikum versammeln, von Anfang an von manchmal ganz offen zur Schau getragenem, manchmal von codiertem Antisemitismus.

Offen und codiert zur Schau getragener Antisemitismus auf Maßnahmen-Demonstrationen war keine Seltenheit.
Foto: Aaron Karasek via www.imago-images.de

Der "große Austausch" von "Globalisten" gesteuert

Der bereits angesprochene "große Austausch" etwa, der in der Weltsicht der Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker von "den Globalisten" gesteuert wird, kann als einer von vielen antisemitischen Codes gewertet werden. Denn auch wenn sich der "große Austausch" auf muslimische Migrantinnen und Migranten bezieht, wird eine strukturelle Nähe zum antisemitischen Verschwörungswahn offensichtlich. So ist der "Globalist" in seinem Kern nichts anderes als der "Weltjude", von dem die Nationalsozialisten sprachen. Denn sowohl der "Weltjude" wie auch der "Globalist" stellt das Abstrakte schlechthin dar, diese unfassbare "dunkle Macht", die als "[…] wurzellos, ungeheuer groß und unkontrollierbar, vor allem aber als hinter der Erscheinung stehend und somit konspirativ, unfassbar empfunden […]" wird, wie der Politikwissenschafter Samuel Salzborn festhält.

Dabei ist das Bild der "dunklen Macht" sehr vielseitig einsetzbar. So stimmen laut Antisemitismusstudie 28 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher der Aussage zu: "Eine mächtige und einflussreiche Elite (z. B. Soros, Rothschild, Zuckerberg ...) nutzt die Corona-Pandemie, um ihren Reichtum und politischen Einfluss weiter auszubauen." In Bezug auf den Krieg in der Ukraine stimmten in einer in Deutschland erschienenen Studie des Thinktanks Cemas 12,2 Prozent der Befragten der Aussage zu: "Putin geht gegen eine globale Elite vor, die im Hintergrund die Fäden zieht."

Antisemitismus ist keine Randerscheinung

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass Antisemitismus auf sehr unterschiedliche Herausforderungen und Unsicherheiten angewendet wird. Die breite Zustimmung dieser antisemitischen Verschwörungsmythen belegt darüber hinaus, dass Antisemitismus keine Randerscheinung, sondern in der Mitte unserer Gesellschaft sehr lebendig ist. Auch das heterogene Publikum auf den Anti-Maßnahme-Demos legt dies nahe. Viele Antisemitismusforscherinnen und Antisemitismusforscher, wie etwa Samuel Salzborn oder Moishe Postone, sehen den Grund für die weite Verbreitung und die Hartnäckigkeit des Antisemitismus darin, dass dieser als Weltbild und Ideologie durch seine verschwörungsmythischen Erzählungen unerträgliche Widersprüche und Herausforderungen zu "erklären" vermag.

Als Ideologie bietet der Antisemitismus für schwer verstandene Herausforderungen den passenden – weil abstrakten – Schuldigen, gleichzeitig vermittelt er Orientierung in krisenbehafteten Zeiten. In Zeiten, in denen die Krise zum Dauerzustand geworden ist, ist es somit besonders wichtig, sich dem Antisemitismus als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu widmen. (Constantin Lager, 13.5.2022)