
Achille Lauro tritt für San Marino an und bringt Sexiness auf die Bühne.
Im Ersten Semifinale konnte sich Europa vor allem auf die ruhigen, stillen Töne einigen. Dance und Spaß hatten es schwer und mussten schon perfekt inszeniert sein, wie Moldau und Norwegen vorzeigten.
Ob sich im zweiten Halbfinale auch eher Balladen durchsetzen werden? Die Dichte an traurigen und gefühlsbetonten Männern ist in diesem Semi hoch. Dazwischen aber serbische Kunst, sanmarinesische Exaltiertheit und tschechische Tanzmusik.
1. Finnland: The Rasmus – Jezebel
Schon 1996 erschien das Debütalbum der erfolgreichen Rockband The Rasmus aus Finnland. Der größte Erfolg weltweit war "In The Shadows" im Jahr 2003. Die Überraschung war groß, als die Band verlautbarte, in der finnischen Vorausscheidung antreten zu wollen. Mit einer sehr gelungenen, schwarz-gelb inszenierten Performance sollte das Weiterkommen klappen. Stephen King lässt grüßen.
Tipp: weiter
Buchmacher: 7
2. Israel: Michael Ben David – I.M
Überkandidelt ist wohl das richtige Wort für den israelischen Beitrag. Michael Ben David kam nach Turin und wollte noch überdrehter und schriller sein, als je ein Act gewesen ist. Dabei handelt der Song von Michael Ben Davids Coming-out-Erfahrungen und welche Widerstände er als schwuler Mann überwinden musste. Besonders häufig betonte er vor der Presse seine halbukrainische Herkunft. Der Song ist leichtfüßiger Dance-Pop, und die Verpackung hat nicht den Tiefgang, auf den der Inhalt schließen lassen würde.
Tipp: raus
Buchmacher: 14
3. Serbien: Konstrakta – In corpore sano
Eine Premiere! Noch nie gab es einen lateinischen Songtitel beim Song Contest! "In einem gesunden Körper" besingt die gelernte Architektin Konstrakta den Gesundheitswahn unserer Gesellschaft, die Abgründe zwischen der Massenindustrie rund um die Gesundheit und der prekäre Zugang zu Versicherungen. Meghan Markles Haare kommen in dem Song auch vor! Trotzdem bleibt Konstrakta eine neutrale Beobachterin, eine Analystin, ohne zu moralisieren. Dieser Beitrag könnte ebenso eine Installation in einem Museum sein. Der Autor dieser Zeilen outet sich: Lieblingsbeitrag dieses Halbfinales.
Tipp: weiter
Buchmacher: 5
4. Aserbaidschan: Nadir Rustamli – Fade To Black
Aserbaidschan kauft gerne am Markt der schwedischen Songwriting-Camps Fließbandlieder und lässt sie dann von einem Casting-Show-Teilnehmer vortragen. Das ist auch 2022 so. Nadir Rustamli singt einen generischen Song auf einer teilbaren Tribüne, und der Song wurde extra so konzipiert, dass Rustamli am Ende seine Stimme dramatisch inszenieren darf. So berechnend, dass man eine künstliche Intelligenz dahinter vermuten könnte.
Tipp: könnte knapp werden
Buchmacher: 10
5. Georgien: Circus Mircus – Lock Me In
Jedes Jahr gibt es einen Indie-Beitrag, den dessen Fans abgöttisch lieben, aber trotzdem wird es fürs Erreichen des Finales schwer werden. Die Band Circus Mircus ist – neben Norwegen – der zweite Act, der sich optisch nicht zu erkennen gibt, keine Namen veröffentlicht und sich hinter Halbmasken versteckt, in diesem Fall Steampunk und Blumenbärte. Circus Mircus hat bereits einen recht eindrucksvollen Songkatalog zwischen französischem Elektro, Indie und Frank Zappa. Eine Finalteilnahme ist kaum zu erwarten, würde dem Bewerb aber guttun.
Tipp: leider raus, aber Hoffnung bleibt
Buchmacher: 16
6. Malta: Emma Muscat – I Am What I Am
Es gibt so sakrosankte Songtitel. Die sind einfach historisch vergeben. Es wäre wohl zu verwegen, einen Song "I Can’t Get No Satisfaction" oder "Tristan und Isolde" zu nennen. Malta pfeift aber drauf, um quasi Blasphemie an Gloria Gaynor zu begehen. Und jeder hat bei diesem Songtitel den Ohrwurm im Sinn. Aber in diesem Fall kommt generischer Schwedenpop raus, wie er zu Recht langsam aus dem Song Contest verschwindet. Das sollte auch Malta langsam begreifen.
Tipp: raus
Buchmacher: 11
7. San Marino: Achille Lauro – Stripper
Achille Lauro ist Performer, Gesamtkunstwerk, Sexsymbol und in Italien ein Superstar, der Hallen zigfach füllen kann. Zu gern wollte er einmal für Italien zum ESC, doch es siegten immer andere. Also ging er nach San Marino und gewann den dortigen Vorentscheid mit einem Song, der qualitativ leider nicht ganz an sein sonstiges Œuvre heranreicht. Achille Lauro gibt es schon länger als Måneskin, aber trotzdem wird eine europäische Öffentlichkeit, die das nicht weiß, "Stripper" als Abklatsch wahrnehmen. Die Performance ist der laszivste Beitrag dieses Contests. Italien darf jedoch in diesem Halbfinale nicht mit abstimmen. Pech für Superstar Achille, denn das ist schon … geil.
Tipp: eher weiter
Buchmacher: 12
8. Australien: Sheldon Riley – Not The Same
Der Australier Sheldon Riley wurde – wie so viele – durch eine Castingshow bekannt. Damals erzählte er von seinem schwierigen Coming-out und seine Erfahrungen mit dem Asperger-Syndrom. Darum geht es auch in der Empowerment-Hymne, die er vorträgt. Conchita ist sein großes Vorbild. er versteckt sich hinter Masken aus Glitzer und Glamour, um erst am Ende sein wahres Ich zu zeigen. Drama, Drama und noch mehr Drama in einem einige Kilogramm schweren Kleid.
Tipp: weiter
Buchmacher: 3
9. Zypern: Andromache – Ela
Songs wie den zyprischen gab es so Mitte der 2000er-Jahre zigfach, daher wirkt der Song auch etwas aus der Zeit gefallen. "Ela" wippt gemütlich vor sich hin, ohne einen Höhepunkt zu erreichen, weder kompositorisch noch stimmlich. Der Balkan-Beat kommt wohl immer noch gut genug an, mitreißen tut dieser Song aber ebenso wenig wie die Venus-Inszenierung auf der Bühne.
Tipp: knapp raus
Buchmacher: 9
10. Irland: Brooke – That's Rich
Noch ist Irland mit sieben Siegen Rekordhalter in der Song-Contest-Geschichte. Schweden könnte mit einem weiteren Sieg gleichziehen. Ein achter Sieg Irlands ist auszuschließen. "That’s Rich" bedeutet übrigens in Irland so was wie "Voi oag". Man wünscht der irischen Delegation bald wieder ein besseres Händchen bei der Songauswahl.
Tipp: raus
Buchmacher: 15
11. Nordmazedonien: Andrea – Circles
Das dunkle Timbre von Andrea ist das Eindrucksvollste an diesem Song. Sonst passiert da wirklich nicht viel. Der mazedonische Sender wollte sich nach der Eröffnung am Sonntag sogar vom Bewerb zurückziehen. Andrea wollte für Fotografen eine Pose einnehmen, warf dafür die Fahne kurz auf den Boden, und sorgte in ihrer Heimat für einen riesigen Skandal, weil sie nationale Symbole respektlos behandle. Ein Ausstieg zu diesem Zeitpunkt hätte allerdings zu hohe Strafzahlungen verursacht.
Tipp: raus
Buchmacher: 18
12. Estland: Stefan – Hope
Italienische Spaghetti-Western und Ennio Morricone, gepaart mit Popelementen, die an "Heroes" von Måns Zelmerlöw erinnern: Das ist das Rezept Estlands dieses Jahr. Stefan hatte in Estland schon oft versucht, anzutreten, endlich gelang mit "Hope" der Sieg zu Hause. Eingängiger Pop!
Tipp: weiter
Buchmacher: 4
13. Rumänien: WRS – Llámame
Eigentlich ist WRS (ausgesprochen "Urs") mehr Tänzer als Sänger. Er war jahrelang Begleittänzer bei nahezu allen rumänischen Castingshows. Das Interesse rumänischer Künstler am Song Contest hat in den letzten Jahren dramatisch abgenommen. Dieser Beitrag wird daran nicht viel ändern. Aber Spaß macht er immerhin. Und ja, WRS tanzt besser, als er singt. Spanien darf in diesem Halbfinale mitstimmen und wird sich wundern, ob das nicht doch der eigene Beitrag ist.
Tipp: raus
Buchmacher: 13
14. Polen: Ochman – River
Der polnische Beitrag kam als so genanntes Dark Horse nach Turin. Man merkte das der polnischen Delegation auch an. Sehr selbstbewusst geht man davon aus, zum Favoritenkreis zu gehören. Ochman ist in den USA aufgewachsen und lebt mittlerweile wieder in Polen. Sein Song und die Inszenierung haben zweifelsohne eine Anziehungskraft, und einige gehetzt wirkende Momente aus den Proben wurden erfolgreich bewältigt. Könnte auch Samstag weiter vorne landen. Die Polen wollen unbedingt endlich mal gewinnen.
Tipp; weiter
Buchmacher: 2
15. Montenegro: Vladana – Breathe
Voriges Jahr besang der Spanier Blas Cantó den Tod seiner Großmutter, die an Covid-19 verstarb. Vladana aus Montenegro besingt den Tod ihrer Mutter an Corona. "Breathe" ist eine klassische Balkan-Ballade, wie wir sie schon häufig gehört haben. Allerdings wirken solche Balladen in den Muttersprachen stärker als auf Englisch. Warum man ihr eine CD-Scheibe auf den Rücken klebt, wird ein Rätsel bleiben und konterkariert leider den Inhalt.
Tipp: raus
Buchmacher: 17
16. Belgien: Jérémie Makiese – Miss You
Jérémie Makiese ist nicht nur Castingshow-Gewinner und Sänger, er ist auch Tormann in der zweiten Liga Belgiens, auch wenn er diese Karriere derzeit eher in den Standby-Modus gestellt hat. Der Song ist vokal enorm stark und wird die Jurys beeindrucken. Klugerweise haben die Belgier den Track nicht zu sehr als R&B-Nummer konzipiert, sondern noch mit einem Hauch James Bond aufgepeppt. Beim Publikum wird dieser Song es etwas schwerer haben, aber die Jurys sollten die beste Stimme des Abends ins Finale bringen.
Tipp: weiter
Buchmacher: 8
17. Schweden: Cornelia Jakobs – Hold Me Closer
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass dieser Song sich durchsetzen wird, nicht nur am heutigen Abend. Aber wann gehörte Schweden nicht zu den Favoriten? Cornelia Jakobs schrieb den Song mit ihrem Lebensgefährten David Zandén über ihre fast scheiternde Beziehung. Der persönliche Aspekt und die Authentizität machen diesen Beitrag eigentlich sehr untypisch für Schweden und klingen nicht nach Reißbrett. In den Proben gab es viele technische Probleme und selten einen funktionierenden Durchlauf. Für Spannung ist also gesorgt.
Tipp: weiter, Siegerin des Halbfinales
Buchmacher: 1
18. Tschechische Republik: We Are Domi – Lights Off
Gestern gab es mit Griechenland und Norwegen quasi bereits zwei norwegische Beiträge, und es geht weiter. Die tschechische Sängerin Dominika Hašková und die zwei Norweger Casper Hatlestad und Benjamin Rekstad lernten sich in einer Musikakademie in Leeds kennen, leben aber mittlerweile in Prag und starteten das Electropop-Projekt We Are Domi. "Lights Off" ist ein Dance-Track, aber klingt etwa anspruchsvoller als der österreichische aus dem ersten Halbfinale.
Tipp: knapp weiter
Buchmacher: 6
Die Plätze der Buchmacher ist der Durchschnitt aller Anbieter, Stand 11. 5., 17 Uhr (Marco Schreuder*, 12.5.2022)