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Winterschlaf zu halten ist für Menschen nicht so einfach. Ein Grund: Forschende wissen nicht, wie sich Tiere in diesen Zustand versetzen.

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Vor knapp 100 Jahren war in der Gegend von Pskow im Nordwesten Russlands etwas Erstaunliches zu beobachten. Lebensmittel waren knapp, der Hunger allgegenwärtig. Um Vorräte zu sparen, versammelten sich manche Bauernfamilien schon beim ersten Schneefall am Feuer. Nicht, um miteinander zu reden, sondern um zu schlafen. Nur einmal am Tag spülten sie ein Stück Brot, das sie zuvor in rauen Mengen gebacken hatten, mit einem Schluck Wasser hinunter. Danach schliefen sie weiter. Bis zum Frühling lebten sie so, sechs Monate lang. "Lotska" nannten sie ihre Praxis, die dem Winterschlaf sehr ähnlich ist. Berichte dieser Art sind selten. Doch sie werfen eine Frage auf, mit der sich Forschende schon lange beschäftigen: Kann der Mensch Winterschlaf halten – genauso wie andere Tiere? Und wenn ja, wie ließe sich dieser nutzen?

Tiere im Energiesparmodus

Bären, Eichhörnchen, Fledermäuse, Hamster, Siebenschläfer und Murmeltiere – sie alle halten Winterschlaf, auch Hibernation genannt. Er hilft ihnen, unter harten Bedingungen zu überleben und sich vor Feinden zu schützen. Sie murmeln sich in selbstgebauten Höhlen oder Nestern ein und begeben sich in eine Art Energiesparmodus. Dabei reduzieren sie Atmung, Herzfrequenz und Energieverbrauch auf ein Minimum. Die Körpertemperatur sinkt drastisch, der Stoffwechsel wird reduziert – jene chemischen Reaktionen in ihrem Körper, die sie am Leben erhalten, laufen langsamer ab. Torpor oder Erstarrung nennt sich dieser Zustand.

Für bis zu sieben Monate begeben sich Braunbären in die Winterruhe. Sie graben eine Höhle und murmeln sich dort ein.
Foto: Imago / alimdi

Tiere wechseln beim Winterschlaf zwischen langen Torpor-Phasen und kurzen Arousal-Phasen, in denen sie aufwachen, um im Halbschlaf Nahrung zu suchen. Wie lange sich Tiere im Torpor befinden, ist unterschiedlich. Mäuse und Kolibris "erstarren" täglich für kurze Zeit, um Energie zu sparen. Andere fallen über längere Zeiträume in den Torpor, Bären eben im Winter. Große, energiehungrige Tiere halten Winterschlaf – warum nicht auch der Mensch?

Spannend für die Medizin

Menschen in einen Winterschlaf zu versetzen ist nicht so einfach. Bisher ist es schwierig, den Torpor von Tieren einfach nachzubilden. Forschende wissen noch nicht, wie sie es schaffen, ihren Stoffwechsel derart herunterzuschrauben – ohne langfristige Schäden davonzutragen. Möglich ist, dass der Torpor durch Signale aus dem Nervensystem oder durch Hormone ausgelöst wird. Auch Veränderungen auf Zellebene sind denkbar. Ließe sich das Rätsel lösen und der Mensch zumindest künstlich in einen Torpor-ähnlichen Zustand versetzen, wäre das für viele Disziplinen revolutionär.

Viel verspricht man sich davon etwa auf dem Gebiet der Medizin. Schon heute kontrollieren Ärzte in der klinischen Praxis die Körpertemperatur und den Stoffwechsel von Patienten. Bei Herzoperationen schützen sie dadurch Gewebe vor Schäden. Unterkühlung führt dazu, dass Zellen weniger Sauerstoff benötigen. Künstlich eingeleitete Prozesse wie dieser ähneln schon heute dem spontanen Kälteschlaf bei Tieren.

Könnten Menschen in den Energiesparmodus versetzt werden, etwa nach Unfällen oder Schlaganfällen, würde das Ärzten mehr Zeit verschaffen, um kritische Schäden zu verhindern. Für Transplantationen wäre so ein Verfahren bahnbrechend. Organe ließen sich in einem Winterschlaf- oder Torpor-Zustand monatelang konservieren – bisher müssen Chirurgen sie innerhalb weniger Tage verpflanzen. Auch das US-Militär will den Winterschlaf zu nutzen, um verletzte Soldaten in stabilem Zustand aus Kriegsgebieten ins Spital zu transportieren.

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Organe in den Ruhezustand zu versetzen könnte Transplantationen vereinfachen.
Foto: AP

Nasa investiert in Forschung

Eine Branche träumt davon, den Winterschlaf sogar in die Weiten des Alls zu bringen. Die Raumfahrt beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Astronauten künftig länger und weiter reisen können. Acht Monate – so lange würde eine Reise zum Mars mit der heutigen Technologie etwa dauern. Interstellare Reisen über den roten Planeten hinaus, hin zu anderen Sternensystemen, würden Jahre dauern, selbst wenn Raumschiffe in Lichtgeschwindigkeit reisen könnten. Eigentlich müssen Astronauten auf ihrer Reise essen und sich bewegen. In einen langen, tiefen Schlaf versetzt, wäre das nicht mehr nötig. Ein Crewmitglied könnte jeweils eine Zeitlang bei Bewusstsein bleiben, während die anderen schlafen.

Bekannt ist dieses Prinzip schon, seit es Science-Fiction gibt. In Filmen wie Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum", "Alien", "Interstellar" oder "Passengers" schlafen die Weltraumreisenden in schmalen Tanks oder Kojen, um ihre Körper auf der Reise zu schonen. Geht es nach der Nasa, soll aus Fiktion künftig Realität werden. Schon seit 2014 investiert die US-amerikanische Raumfahrtbehörde in Projekte, die den Langzeitwinterschlaf für Astronauten ermöglichen sollen. Partner ist etwa das Unternehmen Spaceworks, das an Konzepten arbeitet, Astronauten in inaktive Erstarrungszustände zu versetzen.

Erreichen wollen sie das mittels therapeutischer Hypothermie, einer medizinischen Praxis bei der Behandlung verschiedener traumatischer Verletzungen. Die Körpertemperatur eines Patienten wird dabei um zwölf bis fünfzehn Grad gesenkt, wodurch die Stoffwechselrate abnimmt. Der Astronaut verliert das Bewusstsein, lebt aber auf Sparflamme weiter. Laut Spaceworks vermeide dieses Verfahren die Probleme, die etwa mit kryogenem Einfrieren oder anderen Ansätzen verbunden sind. Weitere Forschung müsse aber die gesundheitlichen und technischen Risiken von therapeutischer Hypothermie untersuchen, so Spaceworks.

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In Stanley Kubricks Klassiker "2001: Odyssee im Weltraum" liegen die Weltraumreisenden in geschlossenen Behältern im Dauerschlaf, wenn sie keine Aufgaben zu erfüllen haben.
Foto: AP / Warner Bros. Pictures

Schwer für Menschen umsetzbar

Verfahren wie diese ähneln dem Torpor zumindest. Dem "richtigen" Winterschlaf stehen aber noch einige Probleme im Weg, die bisher nicht lösbar sind. Der Mensch muss überhaupt erst in den Torpor verfallen können. Wie das funktionieren soll, bleibt ungeklärt. Eine Biologin in Alaska entwickelte zwar ein Medikament, das die Kerntemperatur von Lebewesen absenkt und diese in eine Art Schockstarre überführt. Für Menschen eignet es sich aber noch nicht. Zudem sind viele Tiere anatomisch an den Winterschlaf angepasst. Schwarzbären etwa durchlaufen eher eine ganze Reihe von Körpertemperaturen, statt monatelang eine einzige Temperatur aufrechtzuerhalten. Menschen müssten ähnliche Zyklen bewerkstelligen, die sich auch mit Medikamenten schwer herstellen lassen.

Ganz abgesehen davon, wie und ob Menschen es schaffen, birgt der Winterschlaf für sie noch unerforschte Risiken. Unklar ist etwa, wie sich der Winterschlaf auf das menschliche Gehirn auswirkt. Schließlich reagiert das Gehirn sehr empfindlich auf Sauerstoffmangel, die Folgen des Torpors könnten fatal sein. Ebenso kann der Energiesparmodus das Gedächtnis beeinträchtigen. Untersuchungen an Fledermäusen zeigen, dass nach dem Winterschlaf zwar viele Erinnerungen erhalten bleiben, manche jedoch wegfallen. Bei menschlichem Winterschlaf stellt sich also die Frage, was im Torpor mit den Erinnerungen eines Menschen passiert. Schließlich wäre es schlecht, wenn Astronauten es zwar zum Mars schaffen, sich aber nach der Ankunft fragen, was sie dort genau wollten.

Gerade in der Raumfahrt sind Probleme komplexer. Studien zeigen, dass sich die Struktur von Gehirn und Muskeln durch die Schwerelosigkeit verändert. Vor allem bei monate- oder jahrelangen Reisen wirkt sich das enorm auf den Menschen aus. Die Ernährung ist ebenfalls herausfordernd: Da Menschen keine Nahrungsreserven speichern, müssten die Weltraumreisenden über eine Sonde ernährt werden. Passt kein Crewmitglied auf die Schlafenden auf, muss das automatisiert erfolgen. Wer reagiert, wenn etwas schiefgeht? Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt.

Müde trotz Winterschlafs

Viele Forschende sind überzeugt, dass die Wissenschaft genug Erkenntnisse liefert, um menschlichen Winterschlaf zu realisieren. Zwar wird sich der Mensch nicht wie ein Bär Fett anfressen und in eine Höhle zurückziehen. Die Mechanismen, die hinter dem Winterschlaf stecken, lassen sich aber durchaus nutzen. Etwa die Regulierung des Stoffwechsels, wie das Nasa-Projekt zeigt.

Schlussendlich betonen Forschende, dass Winterschlaf keineswegs so erholsam ist, wie sich Menschen das vielleicht vorstellen. Selbst Tiere, die Winterschlaf halten, erwachen regelmäßig aus der Erstarrung, um ihren Körper neu zu regulieren. Für Forschende ein Zeichen, dass diese Tiere vielmehr an einem Schlafmangel leiden, den sie regelmäßig ausgleichen müssen. Das ist auch neurologisch nachweisbar: Gehirnwellenmuster der Tiere im Winterschlaf ähneln den Mustern, die bei Schlafentzug auftreten.

Selbst wenn es Menschen gelingen würde, unbeschadet Winterschlaf zu halten: Aufwachen würden sie übermüdet und erschöpft. Manche Untersuchungen vergleichen den Zustand mit einem gewaltigen Kater, wie er nach übermäßigem Alkoholkonsum auftritt. Die kalten Monate hat der Mensch dann zwar überwunden, doch die Frage ist dann, ob es die Mühen wert war. (Florian Koch, 14.5.2022)