Am Donnerstag gingen in Wien Pflegekräfte für mehr Personal, gute Arbeit und faire Bezahlung auf die Straße. Die Regierung startet nun einen ernsthaften Versuch, die Gründe für die Proteste zu beseitigen.

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In krisenhaften Zeiten, wo vom Corona-Management bis zur Inflationsbekämpfung permanent Kritik hereinprasselt, ist es ein für die Bundesregierung ungewohnter Moment. Kaum ein anderes türkis-grünes Projekt stieß auf ein derart wohlwollendes Echo wie die am Donnerstag präsentierte Pflegereform. Abgesehen von der pflichtschuldigen Kritik der Oppositionsparteien SPÖ, FPÖ und Neos zollten selbst jene Akteure Lob, die am lautesten den drohenden "Pflegenotstand" angeprangert hatten. Die Pflegeorganisationen erkennen ebenso eigene Forderungen wieder wie jene Gewerkschaften, die sich für die überlasteten Bediensteten eingesetzt hatten. Caritas-Präsident Michael Landau richtet der Regierung "ein großes Dankeschön" aus, sogar die sozialdemokratische Volkshilfe sieht einen "Meilenstein".

Positiv fällt auch die erste Einschätzung von Ulrike Famira-Mühlberger aus. Die Regierung habe Maßnahmen gebündelt, die schon länger im Raum gestanden seien, sagt die Pflegeexpertin des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo): "Da sind wichtige Schritte dabei, um die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen zu verbessern."

DIE PFLEGENDEN

Da geht es zuallererst ums Geld: Der Bund will die Einkommen der Pflegepersonen – von diplomierten Kräften bis zur Assistenz – zumindest vorübergehend aufbessern, im Schnitt um etwa ein Monatsgehalt. Die genaue Verteilung der Mittel sollen sich Regierung, Länder und Sozialpartner ausschnapsen – was noch so manche Gerechtigkeitsdebatte auslösen könnte.

Dazu kommen weitere Anreize, die den Job attraktiver machen sollen: Pflegekräften im Alter von über 43 Jahren winkt künftig auch in privat oder vom Bund geführten Einrichtungen eine zusätzliche Entlastungswoche – unabhängig davon, wie lange sie bereits im Betrieb arbeiten. Für jene im Dienste der Länder gibt es dieses Goodie laut Auskunft des Sozialministeriums bereits.

Neu sind auch zwei Stunden Zeitguthaben pro Nachtdienst und das Versprechen, Assistenzkräfte mit mehr Kompetenzen auszustatten– etwa beim An- und Abschließen von Infusionen. Als großen Fortschritt stuft Famira-Mühlberger diese unscheinbare Änderung ein. Denn wenn selbst für Routinehandgriffe ein Arzt gerufen werden müsse, verzögere das den ganzen Ablauf – und das zermürbe die Bediensteten.

DIE AUSBILDUNG

Auch da stehen finanzielle Anreize im Vordergrund. Einsteiger in der Pflege-Erstausbildung sollen als Minimum 600 Euro Zuschuss pro Monat bekommen, das Gleiche gilt für Sozialbetreuungsberufe. In den Ländern gibt es bereits derartige Leistungen in unterschiedlicher Höhe. Der Bund will nun für ein möglichst einheitliches Mindestniveau sorgen.

Umsteigern und Wiedereinsteigerinnen winkt ein Pflegestipendium von 1.400 Euro im Monat, wenn sie in einer vom Arbeitsmarktservice geförderten Ausbildung stehen – auch das soll laut Regierung nur der Mindeststandard sein. Für Jugendliche soll es als Modellversuch eine Pflegelehre in ganz Österreich geben – wie viele Plätze geplant werden, ist noch offen. Zugewanderte ausgebildete Fachkräfte sollen einfacher eine Arbeitserlaubnis bekommen, auch die Anerkennung von Ausbildungen, die im Ausland gemacht wurden, soll "entbürokratisiert" werden.

DIE ANGEHÖRIGEN

Von den rund eine Million Personen, die in Österreich Angehörige pflegen, dürfen zumindest 30.000 eine Entlastung erwarten: Wer selbst- oder weiterversichert ist und eine Person mit Pflegestufe vier aufwärts pflegt, bekommt ab 2023 einen Bonus von 1.500 Euro im Jahr.

Für Menschen mit schweren psychischen Behinderungen oder Demenz wird der sogenannte Erschwerniszuschlag von 25 auf 45 Stunden pro Monat erhöht – dies schlägt sich dann bei der Bemessung des Pflegegelds nieder.

Weiters wird die für Kinder ab einem gewissen Grad an Behinderung ausbezahlte erhöhte Familienbeihilfe nicht mehr mit dem Pflegegeld gegengerechnet. Laut Regierung profitieren davon rund 45.000 Menschen mit 60 Euro zusätzlich im Monat.

DAS GELD

Eine Milliarde Euro schwer ist das Paket – das entspricht auch dem, was kürzlich das Hilfswerk als für eine "ordentliche" Pflegereform notwendig errechnet hatte. Davon geht nun etwa die Hälfte (520 Millionen Euro) in die Gehaltsaufbesserungen; knapp ein Viertel (225 Millionen) will der Bund in die Ausbildungsoffensive stecken. Damit sollen zwei Drittel der Mehrkosten durch die Ausbildungsförderung gedeckt werden, das dritte Drittel sollen die Länder zahlen. "Es ist klar, dass die Länder einen Beitrag leisten müssen – das werden wir im Detail in den nächsten Konferenzen mit dem Bund verhandeln", heißt es dazu etwa aus dem Büro des roten Gesundheitsstadtrats Peter Hacker (SPÖ). Auch aus anderen Bundesländern kam durchwegs Zustimmung zu dem Paket.

DIE LÜCKEN

Laut ÖVP-Klubobmann August Wöginger will man bis 2023 mit dem Maßnahmenpaket 76.000 zusätzliche Pflegekräfte gewinnen. Ob dies genügt, ist fraglich. Der ehemalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne), der zum Amtsantritt eine "Pflegereform aus einem Guss" angekündigt hatte, sprach von einem deutlich höheren Personalbedarf im gleichen Zeitraum: Man werde nicht weniger 100.000 Menschen brauchen, sagte er damals. Die Corona-Pandemie kam der Umsetzung dazwischen.

Offen ist, wie es mit der 24-Stunden-Betreuung weitergeht. Da präsentierte die Bundesregierung nur vage Änderungen, wonach die unselbstständige Beschäftigung attraktiver werden solle. Das selbstständige 24-Stunden-Modell – in dem die allermeisten der über 60.000 Betreuerinnen tätig sind – soll unberührt bleiben und weiterhin bestehen. Seit Jahren sprechen Interessenvertreterinnen und -vertreter von einer "Scheinselbstständigkeit" bei Betreuerinnen, weil diese in vielen Fällen stark von Vermittlungsagenturen abhängig sind. Die mobile Pflege ist im Reformpaket übrigens kein Thema, wird allerdings von den Ländern gefördert.

DIE ZUKUNFT

Völlig offen ist, wie es nach der 2024 endenden Legislaturperiode der türkis-grünen Koalition weitergeht. Alle Maßnahmen, die Geld kosten, sind vorerst auf diese beschränkt. Der größte Brocken, die halbe Milliarde für die Gehälter, ist etwa mit folgender Fußnote versehen: "Dieser Gehaltsbonus ist zunächst auf zwei Jahre befristet, bis andere notwendige Entlastungsmaßnahmen greifen."

Rauch argumentiert das damit, dass die Regierung ohne aufwendige Verhandlungen erst einmal rasch Geld ins System pumpen wollte. Ihm sei es ein Anliegen gewesen, das Pflegepaket, das die Koalition unisono als großen Wurf preist, endlich auf den Boden zu bringen. Diese Meriten werden dem Grünen durchaus auch von ÖVP-Seite zugesprochen: Der neue Ressortchef habe aufs Tempo gedrückt.

Doch genau da setzt die Kritik an, die es bei allem Lob ebenfalls gibt: Von Interessenvertretungen über Pflegeorganisationen bis zur Opposition ist von "ersten Schritten" die Rede, auf die nun dringend weitere folgen müssten. Gemeint ist damit etwa der Ausbau mobiler Pflegedienstleistungen. In einem weiteren Schritt müssten dann die per Personalschlüssel festgelegten Mindeststandards – Zahl der Patienten je Pflegekraft – verbessert werden, lautet eine weitere Forderung. Denn gerade Überlastung verleitet Bedienstete dazu, dem Beruf den Rücken zu kehren. Sinn ergibt die Verbesserung des Betreuungsverhältnisses aber natürlich erst, wenn genug neue Pflegekräfte nachkommen.

DIE HÜRDE

Für den Ausbau des Pflegeangebots sind aber die Länder zuständig – die Bundesregierung kann diesen allenfalls Verpflichtungen abringen und mit Finanzspritzen nachhelfen. Soll die Reform ganz tief in den Dschungel des Föderalismus vordringen, müssten auch noch die Leistungen vereinheitlicht und die Finanzströme entwirrt werden.

Die türkis-grüne Regierung habe sich erst einmal auf jene Maßnahmen fokussiert, die sie schnell umsetzen könne, analysiert die Expertin Famira-Mühlberger. Um die Pflegereform weiterzutreiben, müssten sich Bund und Länder beim in zwei Jahren anstehenden neuen Finanzausgleich über die nötigen Investitionen einigen: "Da wird es heiß hergehen." (Gerald John, Gabriele Scherndl, 12.5.2022)