Bild nicht mehr verfügbar.

Für die Eltern vieler Kinder stellt sich die Frage: Eine Schule in der Ukraine suchen? Oder beispielsweise in Hamburg bleiben?

Foto: Reuters / Lisa Leutner

Die Menschen in der Ukraine sind bis obenhin voll von Emotionen. Selbst alltägliche Gespräche auf der Straße klingen wie hitzige Diskussionen, die Stimmen sind erfüllt von Schmerz und Leid. Und das ist auch nur allzu verständlich.

Fast die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung ist mittlerweile zu Flüchtlingen oder Binnenflüchtlingen geworden. Viele Familien sind weit weg von zu Hause. Und bei Familien mit Kindern herrscht ein noch tieferer Schmerz und eine noch größere Besorgnis, besonders wenn es um die Zukunft dieser Kinder geht.

Hunderte von Grund- und Hochschulen sind durch russische Bomben und Raketen zerstört worden. Auch Universitäten wurden vernichtet. Doch die Schüler und Studierenden nehmen weiterhin online an Unterricht und Vorlesungen teil, wie sie es auch schon während der Pandemie getan haben. Manchmal wissen sie nicht, wo sich ihre Lehrer gerade befinden – sie unterrichten vielleicht von Deutschland oder von Polen aus oder sogar aus einem Luftschutzbunker in Charkiw. Das ist die neue Realität, und sie zeigt sich in allen Bereichen des Lebens.

In einem Krieg ist Bildung Mangelware. Es ist sehr viel schwieriger, an eine Universität zu gehen und dort Prüfungen zu bestehen. In einem Krieg haben die Studierenden auch keine Ahnung, was sie machen werden, wenn sie irgendwann ihr Diplom in den Händen halten.

Und die Erstsemester wissen nicht, ob sie ihr Studium je werden abschließen können. Es gibt keine Garantien für die Zukunft – weder die Zukunft der einzelnen Studierenden noch die des Landes insgesamt. Es herrschen Wut über die Zerstörung der Hoffnungen und Zukunftspläne und Hass auf diejenigen, die diese Zerstörung über uns gebracht haben. Wir können nur mutmaßen, wann dieser Hass, wie ein heftiger Sturm, wieder vorbei sein wird.

Die Wahl der Grundschule

Nichtsdestoweniger gibt es bereits Pläne für das künftige akademische Leben in der Ukraine. Es gibt einen Kalender, und diesem zufolge geht der Bildungsprozess sowohl in Schulen als auch in Universitäten weiter seinen Gang. Der Kalender sieht vor, dass um diese Jahreszeit die Eltern der angehenden Erstklässler ihre Wahl für eine Grundschule treffen und die Schulen ihre Listen zukünftiger Neuzugänge aufsetzen sollen. Die Schule beginnt am 1. September, es ist also nicht mehr viel Zeit. Doch in diesem Jahr kann in dieser Zeit noch so schrecklich viel passieren.

Ebenso wie im restlichen Europa bringen die Eltern in der Ukraine sehr viel nervöse Energie bei der Wahl einer Schule für ihr Kind auf. Es ist eine anstrengende Zeit. Aufgrund des Krieges haben jedoch nur die Eltern mit einem dauerhaften Wohnsitz im Westen oder Südwesten der Ukraine den Luxus dieses vorhersehbaren und relativ überschaubaren Problems.

Riesige Schulklassen

Die Zahl der Ukrainer, die ins Ausland gegangen sind, hat bereits die Marke von vier Millionen überschritten – und das sind hauptsächlich Mütter mit Kindern. Von den 16 Millionen Binnenflüchtlingen sind mehr als die Hälfte Kinder. Und jetzt müssen die Eltern entscheiden, in welchem Dorf, welcher Stadt oder sogar welchem Land sie ihre Kinder in welche Schule schicken sollen.

Binnengeflüchtete Familien, die es nach Lwiw verschlagen hat, werden es sogar noch schwerer haben. Auch wenn Lwiw eine große Stadt mit vielen Schulen ist, wird es einfach nicht genug Plätze für all die Binnenflüchtlingskinder geben.

Vermutlich wird man irgendwie Plätze für sie finden, aber die Schulklassen werden riesig sein, und es wird noch schwieriger werden, auf die individuellen Bedürfnisse einzelner Kinder einzugehen – und das in einer Zeit, in der die individuellen Bedürfnisse wahrscheinlich ungewöhnlich komplex sein werden.

Oder doch in Hamburg?

Mittlerweile hat die städtische Schulbehörde von Schytomyr eine Online-Anmeldung für Erstklässler eingerichtet. Familien aus Schytomyr, die zurzeit über die Westukraine und Europa verstreut leben, können so zwar wenigstens für den September planen, jedoch sehen sie sich einem anderen Dilemma gegenüber. Sollen sie bleiben, wo sie sind, und ihr Kind beispielsweise in Hamburg auf die Schule schicken, wo niemand Ukrainisch spricht?

Oder sollen sie darauf hoffen, bis Ende August nach Schytomyr zurückkehren zu können, auch wenn noch niemand sagen kann, wie sicher es dann sein wird, in die Ukraine zurückzugehen – insbesondere in die Region Schytomyr, die unter der russischen Aggression ganz besonders gelitten hat? Es ist quasi unmöglich vorauszuahnen, wie die Situation dort Ende August aussehen wird.

Trotz der Gefahr einer neuen Offensive der russischen Armee gegen Kiew und andere Regionen der Zentralukraine kehren viele Menschen in ihre Heimat zurück. Und die Zurückgekehrten verlangen, dass an den Schulen von Schytomyr kein Russisch mehr unterrichtet wird. "Bitte ersetzt es durch eine andere Fremdsprache!", sagen sie.

Andrej Kurkow, "Graue Bienen". 13,40 Euro /448 Seiten. Diogenes, 2021
Cover: Diogenes

Hass auf die Sprache

Mittlerweile verbindet man die russische Sprache nur noch mit dem Krieg, und die Haltung ihr gegenüber hat sich verhärtet, ähnlich wie die Haltung des sowjetischen Volkes gegenüber der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ich erinnere mich, wie ich selbst mich geweigert habe, in der Schule Deutsch zu lernen. 1972 war ich elf Jahre alt und in der vierten Klasse, als wir eine Fremdsprache wählen mussten. Es sollten sich zwei Gruppen bilden – eine für Englisch und eine für Deutsch. Niemand wollte Deutsch lernen. Und ich weiß noch, wie ich meinem Klassenlehrer gesagt habe: "Ich werde nie Deutsch lernen. Die Deutschen haben meinen Großvater umgebracht!"

1997, im Alter von 36 Jahren, habe ich Deutsch gelernt, aber ich glaube, meine Haltung der deutschen Sprache gegenüber hatte sich schon lange zuvor entspannt. Ich befürchte jedoch, dass der Hass auf die Sprache und die Kultur unseres jetzigen Aggressors länger anhalten wird. (Andrej Kurkow, ALBUM, 15.5.2022)