Ein Schöffensenat entscheidet am Straflandesgericht Wien darüber, ob eine über Jahre wiederholt gewalttätige Mutter mindestens fünf Jahre ins Gefängnis muss.

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Wien – Vor elf Jahren wurde in den USA das umstrittene Buch "Battle Hymn of the Tiger Mother" veröffentlicht, in dem eine US-chinesische Juristin berichtet, wie sie mit autoritativem Erziehungsstil ihre beiden Töchter zu Höchstleistungen getrieben hat. Auch die mittelalte Angeklagte, die in Wien wegen fortgesetzter Gewaltausübung an ihrer Tochter vor einem Schöffensenat sitzt, wollte nur "eine gute Zukunft" für ihr Kind, sagt sie. Und soll die Kleine deshalb laut Staatsanwältin Judith Ziska seit der Volksschule regelmäßig verprügelt haben, bis die Tochter sie schließlich im November anzeigte.

Wie so oft in Strafverfahren offenbaren sich die Abgründe im privaten Umfeld. Die zierliche Angeklagte ist unbescholten und Alleinerzieherin der beiden Kinder von zwei Ex-Partnern. Die Angestellte verdient rund 1.800 Euro im Monat und muss noch 16.000 Euro Kredit zurückzahlen, erzählt sie Christina Salzborn, Vizepräsidentin des Landesgerichts und Vorsitzende des Schöffensenats. "Es ist richtig, dass ich sie geschlagen habe", bekennt sie sich schuldig. "Ich suche jetzt andere Methoden, um sie zu disziplinieren." Dabei helfen Ihr Beraterinnen und Berater des Jugendamts.

Ein "Dreier" als "schlechte Note"

"Wann hat das begonnen?", will Salzborn wissen. "Ich glaub, als sie einmal in der Schule eine schlechte Note bekommen hat", antwortet die Angeklagte. "Was ist denn eine schlechte Note?", interessiert die Vorsitzende. "Ein Vierer, ein Dreier. Ich habe gehört, sie muss lauter Einser haben, um ins Gymnasium zu kommen." – "Wir reden also von der Volksschule?", erkundigt sich Salzborn, was die Angeklagte bestätigt.

Damals gab es auch Ohrfeigen, wenn das Mädchen schlecht Geige spielte. Als das Kind in die Pubertät kam, sollen auch Faustschläge dazugekommen sein, was die Angeklagte bestreitet. Was die Frau allerdings zugibt, ist, dass sie später, wenn sie bei einem Streit mit dem Teenager die Kontrolle über sich verlor, auch mit Gegenständen zugeschlagen hat. Einem Staubsaugerrohr, einem Besenstil, einem Regenschirm, der dabei kaputtging – und vor allem einem Gürtel.

"Aber dass es verboten ist, jemanden zu schlagen, ist Ihnen schon klar?", fragt die Vorsitzende und erntet zunächst Schweigen. Salzborn bittet die Angeklagte, vor den Richtertisch zu treten, und zeigt ihr Bilder der blutenden Nase, der Kratzspuren und der Hämatome ihrer Tochter. "Haben Sie geglaubt, dass das erlaubt ist? Ehrlich?", will sie wissen. "Als Kind habe ich das auch erlebt", antwortet die Angeklagte kaum hörbar.

Angeklagte wurde selbst von Mutter verprügelt

Später erklärt die Angeklagte ausführlicher: Sie wurde zwar in Wien als österreichische Staatsbürgerin geboren, ging aber als Kind mit der Mutter zurück in die Heimat der Eltern, wo sie nach ihrer Darstellung regelmäßig von der Mutter mit dem Gürtel verprügelt wurde, um sie zu besseren Leistungen anzuspornen. "Ich glaube, in den meisten asiatischen Ländern ist das normal", sagt die Angeklagte unter Tränen dazu. Auch eine in Österreich aufgewachsene Verwandte, der sich die Tochter schon in der Unterstufe anvertraute, soll dem Kind gesagt haben: "Das haben wir alle erlebt. So ist es halt." Im Jahr 2004 kam die Angeklagte retour und war bald darauf mit der Tochter schwanger.

Immer wieder betont die Frau, sie wolle nur das Beste für ihr Kind, das habe aber mit 13 oder 14 Jahren begonnen, nicht mehr auf sie zu hören. "Sie hat auch keinen Respekt mehr, was sie anzieht", führt sie als Beispiel an. "Sie hätten gerne mehr Stoff?", fragt Salzborn nach. "Ja, sie ist ein Mädchen. Und noch jung." Als 15-Jährige habe das Kind einmal vom Großvater sturzbetrunken von einer Freundin geholt werden müssen, außerdem rauche ihre Tochter auch, bemängelt die Angeklagte. Persönlich habe sie den Freundeskreis ihres Kindes allerdings noch nie kennengelernt.

"Wie soll's denn jetzt weitergehen?", fragt Salzborn. Nach der Anzeige verbrachte die Tochter nämlich nur einen Tag in einem städtischen Krisenzentrum und zog dann zurück in die mütterliche Wohnung. Man gehe sich eher aus dem Weg, beschreibt die Angeklagte. Man esse zwar gemeinsam und mache Ausflüge, aber: "Im Moment will sie nichts akzeptieren, was wir sagen", meint die Angeklagte über ihr älteres Kind. Sollte der Teenager aber die Schule abbrechen wollen und stattdessen eine Lehre beginnen, könne sie damit leben, versichert sie.

Äußerst hohe Mindeststrafe

Angesichts der Tatsache, dass die Angeklagte nicht nur für den Teenager, sondern auch ein Kleinkind allein sorgepflichtig ist, hadern sowohl Salzborn als auch Staatsanwältin Ziska mit dem Gesetzgeber. "Ich glaube, es ist allen hier bewusst, dass die Angeklagte bestraft werden muss", stellt Ziska in ihrem Schlussplädoyer zwar fest. Das Problem: Übt man gegen eine unmündige Person, wie hier angeklagt, über ein Jahr lang fortgesetzte Gewalt aus, beträgt der Strafrahmen fünf bis 15 Jahre Gefängnis. "Das bedeutet, dass die Mindeststrafe fünf Jahre Haft sind, die nur in Ausnahmefällen bedingt möglich sind." Ziska sieht, für eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft durchaus ungewöhnlich, "weder aus spezial- noch generalpräventiven Gründen" eine Notwendigkeit, "mit einer derartigen Mindeststrafe vorzugehen. Es geht darum, der Familie wieder eine Zukunft zu geben."

Der Senat berät 25 Minuten über die Strafe und schließt sich dieser Meinung an. Es wird wegen der zahlreichen Milderungsgründe von der Möglichkeit der "außerordentlichen Strafmilderung" Gebrauch gemacht, wodurch die Mindeststrafe auf drei Monate sinkt. Die Angeklagte wird schließlich zu 20 Monaten bedingt verurteilt, muss Bewährungshilfe in Anspruch nehmen und ihrer Tochter die geforderten 500 Euro Schmerzengeld zahlen.

"Wir hatten keinen Zweifel, dass die Handlungen auch gegen eine Unmündige gesetzt wurden", begründet Salzborn, dass der Anklagevorwurf erfüllt sei. Allerdings habe sie "noch nie so ein umfassendes Geständnis erlebt", die bisherige Unbescholtenheit und die Bereitschaft, das Schmerzengeld zu zahlen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen sowie die eigenen Gewalterfahrungen der Angeklagten führten zum milden Urteil. "Es ist eine Einzelfallentscheidung für Ihre konkrete Familie", stellt die Vorsitzende klar. Die Frau und ihr Verteidiger Stefan Benesch nehmen an, auch die Anklägerin hat keine Einwände, die Entscheidung ist daher rechtskräftig. (Michael Möseneder, 13.5.2022)