Die Unbegreiflichkeit des Jenseits? Sie wird durch den diesseitigen Menschen erfahrbar: Das intimste Innere erklingt in einem großen kollektiven Körper, eine Einheit erwächst im Nebeneinander – nichts Geringeres geschieht, wenn die dreizehn Performerinnen und Performer in diesem Stück, tumulus, Bewegung und Gesang zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk vereinen. Die Festwochen-Koproduktion mit dem Brüsseler Kunstenfestivaldesarts hat heute, Samstag, im Museumsquartier Wien-Premiere.

Bei "tumulus" begibt sich ein tanzendes und singendes Kollektiv in einen Dialog mit einem auf der Bühne ruhenden Hügelgrab. Die Gleichwertigkeit der Stimmen und Körper sucht die Verwandtschaft zur Technik des musikalischen Kontrapunkts.
Foto: Les Cris de Paris / Mandorle productions

Es ist ein sehr ambitioniertes Vorhaben, das sich der Choreograf und Tänzer, Sänger und Historiker François Chaignaud und der Dirigent und Musiker Geoffroy Jourdain mit ihrer seit über zwei Jahren andauernden Gemeinschaftsarbeit zum Ziel gesetzt haben. Und es ist letztlich, wie in Brüssel zu erleben war, auch geglückt: Die Eröffnungsproduktion der Wiener Festwochen hat bereits beim Kunstenfestivaldesarts mit seiner hypnotisch wirkende Struktur der polyfonen Stimmen beeindruckt.

Gute alte Schule des Kontrapunkts

François Chaignaud, der 2019 zusammen mit Marie-Pierre Brébant Lieder von Hildegard von Bingen in den Gösserhallen interpretierte, widmet sich nun den Gesängen der Frührenaissance unter anderem der franko-flämischen Schule, die mit jüngeren Werken wie Claude Viviers Musik für das Ende (1971) zusammengebracht werden. Im Zentrum steht die Technik der Polyfonie, die der Komponist Josquin Desprez, Meister der Kontrapunkt-Technik, im 15. und 16. Jahrhundert in neue Höhen hievte.

Die Interpretation von Desprez’ Motette Qui habitat bildet denn auch einen berührenden Höhepunkt in diesem Werk. Arrangiert hat das Stück Jourdain, der sich in seiner Arbeit mit dem von ihm gegründeten Ensemble Les Cris de Paris der Alten Musik in einer engagierten und interdisziplinären Manier annähert. Grundlegend für Chaignauds und Jourdains Vision der Polyfonie ist der Gedanke der Gleichwertigkeit der Stimmen, welche – als Gegensatz zur ruhigeren Homofonie – innerhalb eines mehrstimmigen Ganzen ihre Selbstständigkeit und Individualität bewahren. Wie in der musikalischen Polyfonie die einzelnen Stimmen sollen in tumulus Gesang und Tanz gleichwertig sich entfalten können. So eine Leitidee des Projekts, und tatsächlich lassen sich diese beiden Ausdrucksformen von Beginn an kaum getrennt voneinander betrachten.

Zwischen Leben und Tod

Der Werktitel? Das lateinische Wort "tumulus" bezeichnet einen Grabhügel, der sich auf der Bühne im schwachen Licht als amorphes und blassgrünes Gebilde zeigt. Für die singenden Tänzerinnen und Tänzer und tanzenden Sängerinnen und Sänger – als welche die Akteure bezeichnet werden – ist dieses Symbol des Werdens und des Vergehens der eigentliche Dreh- und Angelpunkt.

Sie tanzen mit teils grotesken Bewegungen um den Hügel herum, schlüpfen in die frontale Öffnung und erscheinen an anderer Stelle wieder, erklimmen die Erhebung, um dann hinunterzurodeln. Der zyklische und repetitive Charakter von Tod und Leben scheint sich auch in der Gesamtstruktur von Choreografie und Gesang zu spiegeln: Die dreizehn Körper und Stimmen fließen chorisch ineinander, um sich dann wieder und wieder räumlich und musikalisch zu differenzieren.

Ritus mit Hut

Dem menschlichen Körper entspringen sowohl Gesang als auch Tanz. Die Atmung ist "vector and sculptor" (in etwa: Überträger und Formgeber) von Klang, Melodie und Figur, wie es der Dramaturg des Werks, Baudouin Woehl, im Begleittext beschreibt. Dieser Ursprünglichkeit wird in der durch den Körper strömenden Luft als wiederkehrendem Motiv nachgespürt, etwa im Keuchen, Räuspern, Niesen.

In der markanten Choreografie spiegelt sich besonders die Ritualität der steten Metamorphose wider; sie wird unterstützt durch den Einsatz von Klanghölzern und Glocken. Auch die schrägen Hüte, die am Ende auf dem Grabhügel abgelegt werden, beziehen sich auf einen rituellen, aber keiner bestimmten Ära zuzuordnenden Moment.

Atem und Körper

Betörende Melodiosität, zeitgenössisch interpretierte, rituell-archaische Klänge und markanter Rhythmus: Alle musikalischen Elemente dieses Werks werden durch fluide Übergänge und teilweise Überlagerungen stets als ein organisches Ganzes wahrgenommen. Erstaunlich ist dabei vor allem, wie die gesangliche und auch choreografische Komposition von tumulus trotz ihrer sehr hohen Komplexität und ihrer doch vielen Ebenen in einer so natürlichen Art und Weise, ja so unmittelbar erfahrbar wird.

Ist diese hierarchiefreie Polyfonie der Kunstelemente tatsächlich auch eine Art gesellschaftliche Vision? Wohl auch. Jedenfalls aber entführen Chaignaud und Jourdain uns in eine der Realität enthobene, ja magische Welt, in der durch die Emotion des Einzelnen die großen Fragen von Leben und Tod durchklingen – ähnlich wie der Atem durch unseren Körper fließt. Die Zuhörenden können in die enormen Tiefe dieser stimmlichen Vielschichtigkeit eintauchen und sich in ihr verlieren. Ein ergreifendes Erlebnis. (Lisa Kammann aus Brüssel, 14.5.2022)