Frage 1: Was passiert, wenn heuer die Ukraine gewinnt?

Dieses Jahr gilt das Kalush Orchestra als Favorit.
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Das Kalush Orchestra aus der Ukraine ist einer der Favoriten beim Song Contest 2022. Der Song Stefania wäre auch ohne politische Ereignisse gut genug, um vorne zu landen, der Krieg erhöht aber die Siegeschancen. Oleh Psiuk, Mastermind der Band, hat eine klare Botschaft: Wenn wir gewinnen, wird der Song Contest 2023 in einer neuen, blühenden Ukraine stattfinden.

Die Europan Broadcasting Union (EBU) antwortet auf Fragen nach dem Fall eines ukrainischen Gewinns vorsichtiger. Nach einem Sieg gibt es Fristen und technische Vorgaben, darunter auch die Gewährung der Sicherheit aller Beteiligten. Ukrainer in Turin betonen die Möglichkeit, in den Westen des Landes auszuweichen, etwa nach Lwiw.

Polen und Stockholm haben sich bereits als Ausweichquartier angeboten. Wien schweigt noch. Sollte die Ukraine gewinnen, ist eines gewiss: Wo der Song Contest 2023 stattfinden wird, werden wir wohl erst im Herbst erfahren.

Frage 2: Wird der Song Contest politischer?

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Politisch war der Song Contest immer. 2016 gewann Jamala mit einem Song über die Vertreibung der Krimtartaren für die Ukraine.
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Der Vorwurf, die Eurovision verkomme zu einer politischen Show, ist von Beginn an Bestandteil ihrer Geschichte. In einem Wettbewerb von Ländern ist das kaum zu vermeiden. Der erste deutsche Teilnehmer 1956 war KZ-Überlebender Walter Andreas Schwarz.

Der ORF schickte im Prager Frühling Karel Gott zum Wettbewerb und boykottierte Francos Spanien 1969. Marokko sang einmal mit, weil Israel aussetzte. Der portugiesische Teilnehmer 1975 war ein Held der Nelkenrevolution, die Friedensbewegung hatte in den Achtzigern Songs, dem Mauerfall galten Lieder in den Neunzigern.

Der russisch-ukrainische Konflikt bestimmte die letzten Jahre. Etwa als Polina Gagarina 2015 nach der Krim-Annexion eine Friedenshymne sang oder als im Jahr darauf Jamala den Wettbewerb für die Ukraine mit einem Song über die Vertreibung der Krimtataren 1944 gewann. Der Eurovision Song Contest (ESC) macht nie Politik, spiegelt sie aber zwangsläufig wider.

Frage 3: Welchen Einfluss haben soziale Medien?

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Sieger wie Duncan Laurence können zu Tiktok-Stars werden.
Foto: AP / Sebastian Scheiner

Die Verantwortlichen der EBU sind stolz auf den neuen Kooperationspartner Tiktok. Klassische Medien wurden von den ersten Proben ausgesperrt, Tiktok erhielt ein Monopol. Der chinesische Anbieter ist ein wichtiger Player für Labels geworden. Der niederländische Sieger 2019, Duncan Laurence, eroberte dank Tiktok mit Arcade zwei Jahre nach Veröffentlichung die US-Charts.

Alle Teilnehmer und Delegationen reisen mittlerweile mit großen Social-Media-Teams an. Neben Tiktok hat sich vor allem die Plattform Instagram durchgesetzt. Auch die EBU verstärkt ihre Online-Aktivitäten. Die Verantwortlichen wissen, dass ein 66 Jahre altes Format sich auch im Streaming-Zeitalter neu erfinden muss.

Wer allerdings den Sieg telefonisch entscheidet, ist wissenschaftlich kaum erforscht: Die lettischen Teilnehmer scheiterten im Halbfinale mit dem Tiktok-Hit Eat Your Salad. Der ESC bleibt ein Generationenprojekt auch für Social-Media-ferne Gruppen.

Frage 4: Kann der Song Contest Weltkarrieren ermöglichen?

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Der ESC kann Weltstars wie Abba hervorbringen.
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Domenico Modugno aus Italien bewies bereits 1958, dass man den Song Contest nicht gewinnen muss, um einen Welthit zu landen. Volare wurde auch ohne Sieg Nummer eins in den US-Charts. Ähnliches passierte Vicky Leandros 1967 in Wien mit L’amour est bleu, Cliff Richard 1968 mit Congratulations oder den Common Linnets 2014 mit Calm After The Storm.

Länger anhaltende Weltkarrieren sind hingegen rar gesät. Abba, Céline Dion und seit vorigem Jahr Måneskin sind da etwa zu nennen. Wie unterschiedlich diese mit dem biografischen Aspekt Song Contest umgehen, ist auffällig: Abba betont wie wichtig der ESC-Sieg mit Waterloo 1974 für ihre Karriere war, während Céline Dion über ihren Sieg 1988 für die Schweiz lieber schweigt.

Måneskin gewann den Eurovision Song Contest 2021.
Foto: AFP / Kenzo Tribouillard

Die meisten Teilnehmer, allen voran in Muttersprache singende, erhoffen sich eher nationale oder überregionale Karrieren. Und diese Karrieren schaffen in ihren Ländern recht viele.

Frage 5: Wie vielfältig ist der Song Contest?

Der ESC war immer offen für Sprachen und Kulturen. Die Vielfalt Europas abzubilden ist im Konzept fest verankert. Das Siegerlied 1961 war ein verklausulierter Beitrag über eine verbotene Liebe.

Conny Froboess sang im selben Jahr über Migrationsschicksale in Zwei kleine Italiener, die einstigen Kolonialmächte Niederlande und Portugal ließen früh schwarze Künstler antreten. Oft wurden Beiträge in Minderheitensprachen vorgetragen – heuer schickt Frankreich einen Song auf Bretonisch.

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Natürlich steht der ESC für Diversität.
Foto: Reuters / Rafael Marchante

Seit dem Sieg der transsexuellen Israelin Dana International 1998 ist die queere Community ein besonders sichtbarer Bestandteil des ESC geworden. Dies liegt auch an den vielen queeren Fans. Themen wie Body-Shaming, Behinderung oder Feminismus wurden ebenso behandelt.

Ein rein queerer Event ist der ESC aber nicht. Alle sind willkommen, das macht ihn aus. Es gewinnt aber immer jener Beitrag, der es am besten versteht, im Publikum Emotionen wecken zu können. (Marco Schreuder, 14.5.2022)