Auch den Krieg in der Ukraine haben vorrangig Männer ausgelöst. Wäre es anders verlaufen, wenn Frauen an der Macht wären?

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Der Titel des Buchs wirkt auf viele wohl äußerst provokant: "Was Männer kosten". Darin zählt der deutsche Wirtschaftswissenschafter und Männerberater Boris von Heesen Schritt für Schritt auf, inwiefern Männer beziehungsweise deren Verhalten unserer Gesellschaft schaden. Egal ob beim Drogenkonsum, bei Gewaltverbrechen oder bei Autounfällen – überall liegen Männer vorn. "Das Patriarchat kommt uns teuer zu stehen", sagt von Heesen. Würden Männer ihr eigenes Rollenbild reflektieren, würden alle davon profitieren.

STANDARD: Herr von Heesen, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema kritische Männlichkeit. Was ist damit gemeint?

Von Heesen: Es geht um die kritische Reflexion der Männerrolle im Schatten des Patriachats. Wo stehe ich als Mann in der heutigen Zeit? Wie schaue ich auf meine Rolle, wie verhalte ich mich? Was kann ich an meinem Verhalten ändern? Ein gutes Beispiel ist mein 21-jähriger Sohn, den ich anders behandelt habe als meine Tochter. Ich habe versucht, ihn zum Fußballspielen zu motivieren, ihn gelehrt, sich durchzusetzen, hart zu sein, sich nicht so anzustellen. Ich habe ihm klassisch männliche Rollenstereotype vermittelt. Heute bereue ich, dass ich ihn da unnötig gepuscht habe. Das hat ihm nicht gut getan, das weiß ich heute.

STANDARD: Auch von "toxischer Männlichkeit" ist in der öffentlichen Debatte immer wieder die Rede. Inwiefern können Männer in Ihren Augen toxisch sein?

Von Heesen: Es gibt viele Männer, die sehr ablehnend auf den Begriff toxische Männlichkeit reagieren. Tatsächlich könnte bei dem Begriff das Missverständnis entstehen, dass Männlichkeit toxisch ist. Aber das ist sie eben nicht per se. Es geht stattdessen um die Verhaltensweisen, die durch soziale Prägungen entstehen. Diese müssen nicht toxisch, können aber ungesund oder schädlich sein. Deswegen spreche ich statt toxischer Männlichkeit lieber von toxischen Verhaltensweisen. Es gibt zwar auch toxische Männlichkeit. Das ist dann aber etwa Teil einer rechtsradikalen Gruppierung, die den Mann als das starke Geschlecht definiert und die Frau als Gebärmaschine. Das ist für mich ein System toxischer Männlichkeit.

STANDARD: Zu den toxischen Verhaltensweisen von Männern haben Sie vor kurzem das Buch "Was Männer kosten" veröffentlicht. Darin schreiben Sie, dass toxische männliche Verhaltensweisen Deutschland jedes Jahr 63 Milliarden Euro kosten. Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Von Heesen: Dafür habe ich mir öffentlich verfügbare amtliche Statistiken angesehen: vom Bundeskriminalamt, vom Kraftfahrtbundesamt oder vom Statistischen Bundesamt. Kaum jemandem ist bewusst, dass etwa 94 Prozent der Gefängnisinsassen männlich sind. Auch bei Süchten liegen Männer vorn. Je heftiger die Sucht, desto größer ist der Männeranteil: Beim Rauchen liegen Männer mit 58 Prozent vorn, bei der Alkoholabhängigkeit mit 75 Prozent, beim illegalen Drogenkonsum laut Suchthilfe mit 80 Prozent. Bei der Glücksspielsucht liegt der Männeranteil sogar bei 88 Prozent. Auch bei der Wirtschaftskriminalität und bei Diebstählen dominieren Männer. Und auch da ist es so: Je schwerer die Diebstähle, je höher der Schaden, desto größer ist der Männeranteil. Männer sind zudem häufiger übergewichtig, essen mehr Fleisch als Frauen, schaden somit mehr dem Klima und verursachen mehr Verkehrsunfälle mit Personenschaden. Am Ende verursacht das viel Leid und kostet Geld – wahrscheinlich weit mehr als 63 Milliarden Euro im Jahr, weil ich ja nur die Bereiche untersucht habe, für die Daten verfügbar waren.

Boris von Heesen ist Wirtschaftswissenschafter, hat bei der Diakonie in Bayern und der Drogenhilfe in Frankfurt gearbeitet und ist heute als Männerberater tätig.
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STANDARD: Woher kommen diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Von Heesen: Verantwortlich dafür sind das Patriarchat und die Rollenstereotype, die uns schon von klein auf prägen. Das fängt im Grunde genommen schon an, bevor ein Kind geboren ist. Es gibt Studien darüber, dass mit Jungs zum Beispiel weniger gesprochen wird im Bauch und dieser weniger berührt wird. Die Leute sagen immer, sie behandeln ihre Kinder gleich. Aber unterschwellig ist das nicht immer der Fall. Da geht es schon sehr früh los: dass Jungs stark sein sollen, dass sie keine Schwäche zeigen sollen. Und junge Männer haben kein Korrektiv, das sich mit ihnen kritisch darüber auseinandersetzt. Im schlimmsten Fall führen diese ungesunden Rollenstereotype zu risikoreichem Verhalten und zu Kriminalität. Und das bildet sich dann in den Statistiken ab.

STANDARD: Kann es nicht auch sein, dass Männer deshalb mehr Autounfälle verursachen, weil sie nach wie vor mehr Auto fahren als Frauen? Oder dass deshalb mehr Männer wirtschaftskriminell sind, weil mehr Männer in Führungspositionen arbeiten?

Von Heesen: Beim Straßenverkehr ist es so, dass in Deutschland die gefahrenen Kilometer von Männern und Frauen mittlerweile sehr dicht beieinander liegen. Trotzdem werden doppelt so viele Unfälle mit Personenschaden durch Männer verursacht. Von fünf entzogenen Führerscheinen werden vier Männern entzogen. Bei den Wirtschaftsstraftaten dominieren Männer mit 80 Prozent, auch wenn das Verhältnis der Führungskräfte von Männern und Frauen in Deutschland mittlerweile bei 70 zu 30 Prozent liegt. Und wenn wir auf die Fälle schauen, die die größten Schäden angerichtet haben, darunter etwa der Wirecard-Skandal, der Dieselskandal oder der Cum-Ex-Skandal, dann sehen wir, dass hauptsächlich Männer dafür verantwortlich waren.

STANDARD: Männer sind zum Beispiel risikobereiter und verursachen deshalb mehr Verkehrsunfälle?

Von Heesen: Ja genau. Auch Status ist ein Thema. Je höher die PS-Zahl beim Auto, desto höher ist der Anteil der Männer, die es besitzen. Ferraris und Lamborghinis sind etwa zu 95 Prozent auf Männer zugelassen. Männer trinken wiederum häufiger Alkohol, um Männlichkeit zu inszenieren. Denn es gelingt ja nicht immer, der starke, harte, risikobereite Knochen zu sein.

STANDARD: Sie sagen, es sei auch das Patriachat, das zu hohen Kosten für die Gesellschaft führt. Sind wir in Deutschland und Österreich nicht schon sehr weit, was die Gleichberechtigung betrifft?

Von Heesen: Es hat sich zum Glück schon viel verändert. Trotzdem sehen wir in den Statistiken, dass es nach wie vor große Unterschiede gibt. Sorgeberufe werden immer noch hauptsächlich von Frauen ausgeübt. Auch die Kindererziehung und Haushaltsarbeit obliegt meist Frauen. Wenn in Deutschland ein Kind unter 18 Jahren in einem Haushalt lebt, dann arbeiten 94 Prozent der Väter Vollzeit, aber nur 34 Prozent der Mütter. Mit der Gleichberechtigung ist es noch nicht so weit, wie viele denken. Und die Folgen sind immer noch sehr belastend für unsere Gesellschaft.

STANDARD: Auch der Krieg in der Ukraine ist von Männern dominiert: von Machthabern wie Wladimir Putin und von männlichen Soldaten. Rein hypothetisch: Wäre es anders verlaufen, wenn mehr Frauen das Sagen gehabt hätten?

Von Heesen: Zunächst möchte ich sagen, dass ich schon die ganze Debatte, als der Krieg losging, ziemlich befremdlich fand. Man hat vollkommen selbstverständlich dieses Bild übernommen, dass Männer vor Ort bleiben und kämpfen müssen und Frauen und Kinder fliehen. Das habe ich nicht verstanden, weil vielleicht gibt es ja Männer, die nicht kämpfen wollen. Vielleicht gibt es Frauen, die wollen lieber kämpfen. Es war Krieg, und sofort wurden 30 Jahre Geschlechtergerechtigkeit vom Tisch gewischt. Es muss nicht ein Mann oder eine Frau sein, die ein Land verteidigt. Stattdessen gibt es Menschen, die ihr Land lieben und die ihre Freiheit lieben. Und die sich dafür einsetzen, all das zu bewahren.

Nun zu den Führungsqualitäten: Wenn wir schauen, wie Länder die Corona-Pandemie gemanagt haben, dann sind jene Länder, in denen mehr Frauen in Führungspositionen sind, auch jene, in denen weniger Menschen gestorben sind und in denen es weniger wirtschaftliche Schäden gab. Es gab eine Journalistin der "New York Times", die das untersucht hat. Ihre Schlussfolgerung: Frauen holen sich viel häufiger Berater zur Seite und versuchen, das in aller Ruhe zu reflektieren. Man kann jetzt schwer sagen, dass eine Frau per se eine bessere Regierungschefin wäre. Aber wenn wir weggehen von typisch männlich, typisch weiblich, sondern versuchen, die Eigenschaften zu wählen, die wir brauchen für eine Krisensituation – dazu gehört Mut, Mitmenschlichkeit und Kooperationsbereitschaft –, dann können wir solche Krisen am besten managen. Gerade Kooperationsbereitschaft ist tatsächlich eine Eigenschaft, die viel stärker ausgeprägt ist, wenn Frauen an der Macht sind, soweit ich das beobachten kann. Das heißt nicht, dass Männer nicht genauso weise, kooperative und faire Entscheidungen treffen und sich genauso gut beraten lassen können wie Frauen. Aber sie müssen sich bestimmte Eigenschaften eben erst anlernen.

STANDARD: Sie haben lange Zeit in der Drogenhilfe gearbeitet und sind jetzt Männerberater. Was erzählen Ihnen die Männer, die zu Ihnen kommen?

Von Heesen: Die Männer, die kommen, befinden sich in Krisensituationen. Diese Krise ist in sehr vielen Fällen Gewalt: Gewalt als Täter, aber auch als Opfer von Gewalt. Sie kommen aber auch, weil sie in einer Beziehungskrise stecken oder wegen Problemen mit dem Sorgerecht. Manche Männer, die kommen, finden sich in ihrer Pension nicht zurecht. Sie sagen: Ich weiß nicht mehr weiter, ich weiß nicht, wie das werden soll. Oder ich hatte kürzlich erst einen jungen Mann, der Vater wurde und der total Angst davor hatte.

STANDARD: Sind viele Männer vom eigenen Rollenstereotyp überfordert?

Von Heesen: Hundertprozentig. Männer merken im Grunde gar nicht, dass sie von Rollenbildern durch ihr Leben getrieben werden, sie drücken viele ihrer Emotionen weg, haben kaum Zugang zu ihrer Gefühlswelt. Sie wissen oftmals nicht, was mit ihnen los ist, wenn es ihnen schlecht geht, weil viele nie gelernt haben, sich Hilfe zu holen.

STANDARD: Fühlen sich viele Männer nicht eher angegriffen vom Titel Ihres Buches?

Von Heesen: Ja, es schlägt mir auch Kritik entgegen, vor allem aus der Maskulinisten-Ecke. Dabei habe ich den Titel gewählt, damit wir über dieses Thema reden, damit eine Debatte entsteht. Und ich finde es total schade, weil mir liegen Männer total am Herzen. Viel der Ablehnung rührt auch von Angst und Unsicherheit vor etwas Neuem, davor, bestimmte Privilegien abzugeben. Ich sage immer zu Männern: Es ist eine totale Entlastung, wenn ihr euch darauf einlässt, am Ende gewinnt ihr viel mehr. Ich erlebe in der Arbeit, dass es allen Männern, die diese alten Muster durchbrechen, danach besser geht. Jede Frau, jeder Mann, jeder Mensch, der sich keinem Geschlecht zuordnet, soll sich aus dem breiten Set der menschlichen Eigenschaften das aussuchen, was für ihn oder für sie das Passende ist. Und es sollte nicht die Gesellschaft sein, die uns schon vor der Geburt in Schubladen schiebt.

STANDARD: Wie genau sollen sich diese Rollenbilder verändern?

Von Heesen: Zuerst einmal müssen die Statistiken, die Geschlechterunterschiede zeigen, viel stärker an die Öffentlichkeit. Es geht auch viel um Bildung: Dass Kindergärtnerinnen und Kindergärtner entsprechend ausgebildet werden, dass dort Workshops gemacht werden, ebenso in der Schule. In bestimmten Werbungen, Filmen oder Serien könnte irgendwo eine Information eingeblendet werden, wo es heißt, hier werden Rollenstereotype verkauft, die nicht gesund für die Entwicklung eines jungen Menschen sind. Und warum nicht auch in Betriebe gehen mit Workshops und sagen "Hey, es kann euch besser gehen, wenn ihr euch gesünder ernährt. Es kann euch besser gehen, wenn ihr weniger Alkohol trinkt oder mehr schlaft und weniger Stress habt"?

STANDARD: Sie schreiben, dass auch Männer Feministen werden sollten. Inwiefern?

Von Heesen: Feminismus fordert Gerechtigkeit. Und diese Gerechtigkeit hält ganz viel für die Männer bereit: mehr Zeit mit der Familie, eine Entmystifizierung des Berufslebens, mehr Gesundheit, eine Beziehung auf Augenhöhe. Am Ende würden alle davon profitieren, sowohl Männer als auch Frauen. (Jakob Pallinger, 17.5.2022)