Das belächelte Kuriositätenkabinett ESC war einmal. "Eine Plattform wie der ESC kann weit mehr sein als ein pures Wettsingen", sagt der Ink-Music-Gründer und ESC-Fan Hannes Tschürtz im Gastkommentar.

Sanremo, Rotterdam und die Welt: Vorjahressieger Måneskin nützten den ESC als Bühne. Die römische Band trat seither unter anderem beim Coachella-Festival in Kalifornien auf.
Foto: EPA / Ettore Ferrari

Einmal im Jahr ist es in der Musik wie im Fußball – und Österreich hat neun Millionen "Teamchefs". Dann ist Eurovision Song Contest, und jeder weiß ganz genau, was gut, besser und am besten wäre. Das fällt besonders dann leicht, wenn wir uns in der vermeintlich angestammten Position wiederfinden und über ein frühzeitiges Ausscheiden jammern dürfen.

Vertraten Österreich mit "Halo" in Turin: DJ Lum!x und Pia Maria.
Foto: ORF / Hans Leitner

Nicht nur in der Musikwirtschaft haben aber kluge Köpfe längst begriffen, dass eine Plattform wie der ESC weit mehr sein kann als ein pures Wettsingen. Österreichs Beitrag Halo hält bereits vor dem Finale des Bewerbs bei mehr als fünf Millionen Streams – das ist schon jetzt ein Vielfaches mancher vergangener und auch aktueller Teilnehmer. Der davor in Playlists und Clubs bereits höchst erfolgreiche Lum!x ist Österreichs meistgestreamter Künstler – gekannt hat ihn vor dem Contest trotzdem noch praktisch niemand. Seine in Kreisen davor längst etablierte Marke hat sich mit dem Überschwappen auf das breite Fernsehpublikum nicht geschwächt; der Song hatte durch die Teilnahme exzellente, neue Verbreitungsmöglichkeiten in völlig neuen Zielgruppen; und den Namen Lum!x hat jetzt auch Tante Pepi in Hintertupfing schon einmal gehört.

(Wieder) jüngeres Publikum

Ähnliches gilt für den in der Breite noch wenig bekannten Sam Ryder. Der Brite ist auf und über Tiktok zum Star gereift. Im Vorfeld galt ihm ein Platz im Spitzenfeld als sicher. Jedenfalls holt er seine Kundschaft vor die Geräte – womit sich auch eine erstaunliche Wechselwirkung zeigt: Der Song Contest zieht auch jüngeres Publikum (wieder) an.

"Eine Plattform wie der ESC kann weit mehr sein als ein pures Wettsingen."

Måneskin, die letztes Jahr siegreiche Gender-Bender-Glam-Rock-Truppe aus Italien, hatten mit überzeugenden Auftritten und klugem Marketing vor den und abseits der Kameras bereits vorab für so viel Radau gesorgt, dass der Sieg beim Song Contest eine willkommene Geschichte, aber längst keine Voraussetzung mehr für den globalen Erfolg wurde. Sie befeuern nun die alte Legende "Über Nacht berühmt", die schon bei Abba nur halbwahr war (die hatten im Jahr vor dem Song Contest bereits einen europaweiten Radiohit).

Musik als Vorreiter

Musik ist in ihrer Diversität, Fragmentierung und kreativen Nutzung neuer Möglichkeiten aus vielen Blickwinkeln ein Vorreiter – in der Digitalisierung, deren Kommerzialisierung und auch in gesellschaftlichen Debatten bildet sie Trends früh ab und gibt sozusagen den Ton an.

Der Song Contest ist dann eine der wenig verbliebenen gigantischen Bühnen, die jährlich eine regelrechte Parade davon abzubilden vermag. Eine Rolle, die der Bewerb sprichwörtlich und beispielgebend als Fahnenträger der Regenbogengesellschaft mit Stolz trägt. Aktuell finden sich im frischen globalen Pop etwa starke Bewegungen zur Thematisierung mentaler Gesundheit – eine Welle, die mit etwas Verspätung auch diese Bühne erreicht hat. Dazu kommt regelmäßig das Schauspiel der bewussten Bespielung diverser nationaler Klischees einerseits und dem ebenso bewussten Bruch mit denselben andererseits. Diese Form der Selbstdarstellung mag streckenweise kurios und skurril wirken, kann aber auch entlarvend oder erhellend sein. Letztlich darf das gar als ein stilles Radar für Entscheidungsträger verstanden werden, was "geht" oder aber auch nicht mehr opportun ist – denn alle schauen zu.

Die Machtinteressen

Dort wo ein solches Maß an Aufmerksamkeit ist, sind naturgemäß auch Machtinteressen nicht weit. Veranstalterin des Eurovision Song Contest ist die EBU, die Vereinigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Maßgeblich für den sichtbaren Erfolg einer Teilnahme sind auch deren Verhältnisse zur lokalen Musikwirtschaft.

In vielen Ländern sind schon die Vorausscheidungen üppig inszenierte TV-Events, die nicht nur Generalversammlungen der lokalen Communitys, sondern sozusagen die Großmütter der heutigen Castingshows sind. Schon die Teilnahme am Melodifestivalen (Schweden), Eesti Laul (Estland) oder dem berühmten Festival di Sanremo (Italien) bringt wertvolle lokale Aufmerksamkeit. Eine Gelegenheit, die in Österreich leider fehlt – nicht zuletzt wegen des nicht immer spannungsfreien Verhältnisses der großen Player Ö3 und ORF 1 zur lokalen Musikwirtschaft.

Vergebene Chance

Immerhin hat man in Radiolegende Eberhard Forcher einen leidenschaftlichen Kämpfer gefunden, der den Kontakt zur äußerst bunt und hochwertig gewordenen Musikszene glaubwürdig und ernsthaft aufzubauen vermochte und früher oft vermisste, professionelle Dialoge führte. Und doch vergibt man eine große Chance, sich gegenseitig Heldengeschichten auf dem Silbertablett zu servieren, weil das Verständnis für das Funktionieren der anderen Seite enden wollend ist.

So schauen wir etwas neidvoll auf Länder, die sich Jahr für Jahr gesellschaftlich, musikalisch oder kulturell klar positionieren – man denke an Schweden oder Italien – und entsprechend von ihrem Ruf und kreierten Erfolgen zehren. Aber jetzt haben wir ja Ralf Rangnick. (Hannes Tschürtz, 14.5.2022)