Noch hat Karl Nehammer in seiner Rolle als Kanzler wenig Profil entwickelt. Das soll sich auf dem Parteitag ändern.

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Über die Kanzlerwerdung von Karl Nehammer hat sich eine lückenhafte Erzählung durchgesetzt. Als Sebastian Kurz im Dezember endgültig seinen Rückzug erklärte, hinterließ er einen türkisen Trümmerhaufen; sein Pausenfüller Alexander Schallenberg wollte nicht länger Kanzler bleiben. Und, so wurde es vielfach geschrieben: Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner sei zur Königsmacherin avanciert. Mit der Kraft ihres Amtes habe sie den Quasi-Niederösterreicher Nehammer an die Spitze gehievt.

Tatsächlich waren sich die Landeshauptleute über die Vorgehensweise damals nicht einig. Mehrere mächtige Schwarze sollen gefordert haben, eine Art Obmannfindungskommission einzurichten – also etwas abzuwarten und in der Zwischenzeit die eigene Macht zur Schau zu stellen. Es war dann, und das bestätigen mehrere Beteiligte, Tirols Landeshauptmann Günther Platter, der Nehammer wollte – sofort. Die anderen zogen mit. Auch Mikl-Leitner akzeptierte den Vorschlag, hatte ihn aber nicht initiiert.

Jede Menge Probleme

Diese Woche am Mittwoch wurde Platters Büroleiter Florian Tursky zum Staatssekretär ernannt. Nehammer selbst bezeichnet den jungen Tiroler als "Vertrauten". Auf dem ÖVP-Parteitag am Samstag wird Platter Nehammers offizielle Wahl zum Obmann auf der Bühne abwickeln. Auch Kurz hatte mit Tirol kein schlechtes Verhältnis, aber durch den Chefwechsel hat zweifellos eine Machtverschiebung in der ÖVP stattgefunden. Türkise gehen, Schwarze kommen. Und der Parteitag soll die neue Ära einleiten, wenn es nach den Parteistrateginnen geht.

"Es ist kein Bruch, aber wir beginnen ein neues Kapitel", sagt ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner im Gespräch mit dem STANDARD. Seit Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger am Montag ihren Rücktritt erklärte, ist Sachslehner eine der letzten waschechten Kurz-Türkisen in mächtiger Position der Volkspartei.

Aber es bleiben nach wie vor viele Probleme. Die Inseratenaffäre um Altkanzler Kurz und seine Getreuen stürzte die ÖVP in eine tiefe Krise, die sich nicht so schnell auflösen wird. Im Gegenteil – die türkise Ära bleibt Nehammers größte Belastung.

Miserable Umfragen

Doch auch abgesehen davon lief es für den Kanzler in den vergangenen Monaten bisher alles andere als rund. Als Nehammer übernahm, musste er für die Impfpflicht geradestehen, die schließlich scheiterte. Hinzu kommt jene Affäre um zwei Personenschützer des Kanzlers, die zuerst mit seiner Frau anstießen und dann betrunken einen Parkschaden verursachten.

Wenige Tage nachdem Nehammer die Causa durch ein emotionales Pressestatement erst so richtig befeuert hatte, machte er sich zu seiner vieldiskutierten Moskau-Reise auf. Nicht zuletzt strahlt nun die immer größer werdende Parteifinanzenaffäre der Vorarlberger Volkspartei bis nach Wien.

Die Umfragen sind für die ÖVP miserabel. Im Politbarometer der Boulevardzeitung Heute rutschte der Kanzler kürzlich ab und wurde von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner überholt. In zwei andere Erhebungen, die Puls 24 und Österreich zuletzt veröffentlicht hatten, liegt zwar in beiden Fällen Nehammer vorn, wenn auch einmal nur sehr knapp. In der Sonntagsfrage werden die Sozialdemokraten von den beiden Umfrageinstituten aber deutlich an der Spitze gesehen.

Eine weitgehend unbeantwortete Kernfrage lautet: Wofür steht die Volkspartei konkret unter Nehammer? Führt er den Kurs von Kurz fort? Besinnt sich die ÖVP wieder mehr auf ihre christlich-sozialen Grundwerte? Wer sind die Zielgruppen? Wer schafft an?

Auf dem Parteitag will der neue Obmann thematisch nun endlich in die Offensive kommen. In einer 30- bis 40-minütigen Rede werde er seine Vision für die kommenden Wochen und Jahre darlegen, wie es aus der ÖVP heißt. Der ganze Parteitag soll auf Nehammers Auftritt ausgerichtet sein. Ansonsten hält nur Klubchef August Wöginger eine kurze Ansprache. Sebastian Kurz wird vom Moderator auf der Bühne ein paar Fragen gestellt bekommen, da gehe es um Dank und einen würdigen Abschied.

Fehlende Parteitagsstimmung

Und dann werde Nehammer seinen Anspruch skizzieren: Politik für Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter; es soll um Pflege gehen, wo gerade noch zeitgerecht eine Reform präsentiert wurde. Die "großen Krisen unserer Zeit" würden beleuchtet. Nehammer wolle auch seine harte Linie in Migrationsfragen wieder herausarbeiten – jedoch nicht in Bezug auf Ukraine-Flüchtlinge, wie betont wird. Die große Erzählung laute, so haben es sich die Parteistrategen überlegt: Die Volkspartei führe stabil durch Krisen.

Wer sich in der ÖVP-Basis umhört, bekommt den Eindruck: Parteitagsfeierlaune kommt derzeit noch nicht auf. So mancher Funktionär in den Bundesländern hatte die bevorstehende Kür des neuen Obmanns eigentlich gar nicht auf dem Schirm. Im Gastgeberbundesland Steiermark wird auf der eigenen Website noch Kurz als Bundesparteichef angeführt.

Viele in der ÖVP hoffen, dass der Parteitag einfach möglichst ruhig über die Bühne geht – viel Pflichterfüllung, wenig Euphorie. Das habe aber vor allem mit den vielen Störfeuern der vergangenen Tage zu tun. Die Rücktritte von Köstinger und Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck sorgten für Chaos. Und die Interviews von Altkanzler Kurz hätten Nehammer aus dem Scheinwerferlicht gedrängt, mault ein Funktionär.

Wer hat das Sagen?

Aber wer hat nun eigentlich das Sagen in der ÖVP? Der Darstellung, dass mit Nehammer auch die Macht der Landeshauptleute wieder zurückgekehrt sei, widersprechen in der Volkspartei zuallererst die Landeshauptleute selbst: Ihre Macht sei nie weg gewesen.

Auch Kurz habe den Einfluss der Landeshauptleute keineswegs zurückgedrängt, wie oft dargestellt werde. Er habe es nur geschickter angelegt und sich dabei einmal mehr ein Vorbild an Wolfgang Schüssel genommen: Kurz habe die Landeshauptleute im Hintergrund intensiv eingebunden – dadurch gab es für sie keinen Grund, sich ungefragt einzumischen. So sei Kurz geschmeidiger durch seine Amtszeit gekommen als seine Vorgänger Michael Spindelegger oder Reinhold Mitterlehner, die regelmäßig mit den Landeskaisern zusammengekracht seien, erzählt Andreas Khol, einst ÖVP-Klubobmann und Nationalratspräsident.

Die Statutenänderung, die Kurz bei einem Parteitag durchsetzte, sei lediglich eine Show nach außen hin gewesen. Wie auch Nehammer zuletzt in seiner Pressekonferenz zur Regierungsumbildung festhielt: Wenn man es notwendig hat, sich auf Statuten zu berufen, hat man ohnedies schon verloren. Das einzige Privileg, das Kurz tatsächlich in Anspruch genommen hat: völlig freie Hand bei der Erstellung der Bundesliste für die Nationalratswahl zu haben. Dieses Nominierungsrecht wird wohl auch Nehammer durchsetzen, das ist dem Parteiobmann nicht mehr zu nehmen.

Wünsche direkt kommunizieren

Bei der Bestellung der Bundesregierung reden die Landeshauptleute selbstverständlich mit. Das tun sie ganz unverdrossen bei Nehammer, und er kann nichts Schlechtes daran erkennen: Natürlich stimme er sich als Parteichef mit der Partei und den Landeshauptleuten ab. Diese kommunizieren ihre Wünsche sehr direkt.

So wurde etwa Martin Polaschek – ein Steirer – neuer Bildungsminister, und das gilt auch für Norbert Totschnig als neuen Landwirtschaftsminister, ein Osttiroler, vielmehr aber noch ein Bauernbündler. Das Landwirtschaftsministerium besetzt die ÖVP immer und traditionell mit einem prominenten Vertreter des Bauernbundes. Totschnig war zuletzt dessen Direktor.

Bei der Besetzung des Landwirtschaftsministeriums ist die Mitgliedschaft im Bauernbund Pflicht, in anderen Ministerien gelten andere Kriterien. Die Bündestruktur spielt in der ÖVP immer noch eine große Rolle. Nehammer selbst gehört dem ÖAAB, der Arbeitnehmervertretung innerhalb der ÖVP, an. Insgesamt sechs Bünde gibt es: ÖAAB, Wirtschaft, Bauern, Senioren, Jugend und Frauen.

Dass mit Nehammer nun ein Arbeitnehmervertreter Parteichef und Bundeskanzler ist, gereicht dem ÖAAB nicht zum Vorteil: Obwohl mit Klubchef August Wöginger ein weiterer ÖAABler an ganz zentraler Stelle sitzt, wird von diesem Bund als Allererstes absolute Loyalität vorausgesetzt: Bedingungslos und ohne Widerspruch den Kanzler unterstützen zu müssen ist bei der Durchsetzung der eigenen Interessen erfahrungsgemäß oft kontraproduktiv.

Ungewöhnlich mächtige Bauern

Der Bauernbund, neben den Senioren die mitgliedsstärkste Teilorganisation der ÖVP, hat traditionell ein entspanntes Verhältnis zur Parteispitze: Der Bauernbund ist loyal, so lange seine Interessen in der Regierungsarbeit ausreichend berücksichtigt werden. Und das ist der Fall: Mit einem eigenen Vertreter in der Regierung an der richtigen Stelle können sich die Bäuerinnen und Bauern sehr gut selbst um ihre Anliegen kümmern.

Obwohl sie in der Gesamtbevölkerung weniger als vier Prozent ausmachen, sind sie in der ÖVP mit knapp 300.000 Mitgliedern überdimensional vertreten – und damit ungewöhnlich mächtig. Mit Verteidigungsministerin Klaudia Tanner kommt übrigens ein zweites Regierungsmitglied aus dem Bauernbund.

Die ÖVP war einmal "neu": Das türkise Relikt im Namen ist gestrichen. Nehammer will sich auch mit eigenem Design von Sebastian Kurz abgrenzen.
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Die Junge ÖVP ist mit Claudia Plakolm als Staatssekretärin in der Regierung ebenfalls gut vertreten, ihre Agenden wurden jetzt mit dem Zivildienst aufgewertet. Das ist zumindest ein Zeichen der Wertschätzung. Der Einfluss der Parteijugend ist nach dem Abgang von Kurz, der sich diesen elitären Kreis quasi als Prätorianer gehalten hatte, sicher etwas weniger geworden, die Parteijugend tritt aber selbstbewusst auf.

In der ÖVP verweist man auch auf die Parallelen von Kurz und Plakolm: Wenn die Zeit reif ist für eine Frau an der Spitze der ÖVP, dann wird das Plakolm sein, heißt es. Nehammer könnte hier also eine künftige Konkurrentin hochziehen.

Frauen politisch ohne Gewicht

Die Frauen spielen in der ÖVP keine tragende Rolle, sie sind die mitgliederschwächste Teilorganisation. Wohlgelitten, politisch aber ohne Gewicht. Wer in der ÖVP etwas werden will, treibt dies in einem anderen Bund voran. Der Seniorenbund ist selbstbewusst, hat wenig überraschend die meisten Mitglieder und mit Ingrid Korosec eine sehr umtriebige und außerordentlich gut vernetzte Obfrau. Sie wird ihren Einfluss bei Nehammer jedenfalls geltend machen. Sie hat ihm bereits ihre Loyalität versichert. Wer sie kennt, weiß aber, dass sie in der Umsetzung ihrer Interessen sehr lästig sein kann.

Bleibt noch der Wirtschaftsbund als sechste Teilorganisation. Der hat nach und nach an Einfluss in der Partei verloren. Das liegt auch daran, dass Christoph Leitl und nach ihm Harald Mahrer keinen Wert darauf gelegt haben, im Nationalrat vertreten zu sein. Seit Wolfgang Schüssel, der die Macht der Sozialpartner sukzessive zurückgedrängt hatte (auch hier hat sich Sebastian Kurz ein Vorbild genommen), ringt der Wirtschaftsbund um seinen Einfluss in der Partei. Das wird mit Nehammer nicht leichter werden.

Eine offene Flanke

Der Wirtschaftsbund hatte einen klaren Wunsch, wer Wirtschaftsminister werden sollte: Karlheinz Kopf, der als Generalsekretär der Wirtschaftskammer dafür prädestiniert gewesen sei. Nehammer hat sich hingegen dafür entschieden, dem parteifreien Arbeitsminister Martin Kocher auch noch das Wirtschaftsressort anzuvertrauen. Das kann man fast als Misstrauensvorschuss für den Wirtschaftsbund werten. Wenn man die Vorfeldorganisationen hernimmt, ist das die einzige offene Flanke Nehammers.

Jedenfalls soll nun auch die optische Abgrenzung von der Ära Kurz vollzogen werden: Am Samstag – um exakt 13.30 Uhr, mit dem Start des Parteitags – sollen der Social-Media-Auftritt der ÖVP und die Parteihomepage eine Art Relaunch erfahren: weniger Türkis, überall das neue "Branding", wie es genannt wird, frische grafische Elemente, neue Fotos. Das alte Schild der "Neuen Volkspartei" an der ÖVP-Zentrale in der Wiener Lichtenfelsgasse wurde schon getauscht. Dort firmierte bereits am Freitag nur noch "Die Volkspartei". (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, Michael Völker, 14.5.2022)