Es könnte sein, dass die wichtigste Unterstützung für Karl Nehammer am ÖVP-Parteitag von den Grünen kommt. Dass Gesundheitsminister Johannes Rauch sein milliardenschweres Pflegereform-Paket just zwei Tage vor dem für Nehammer so wichtigen Lostag präsentierte, ist bestimmt kein Zufall. Der Bundeskanzler will sich damit als der Regierungschef positionieren, der "die Sorgen der Menschen ernst nimmt", wie es alle Politiker so gerne in Sonntagsreden formulieren.

Tatsächlich braucht Nehammer den Teilerfolg bei der Pflege wie einen Bissen Brot. Vom Strahlemann-Image seines gestrauchelten Vorgängers ist er laut Umfragen meilenweit entfernt, im Gegenteil – eine Mehrheit vermeint, er sei zu wenig "durchsetzungsstark". Zudem wird die ÖVP von vielen Wählerinnen und Wählern vor allem mit Korruptionsanfälligkeit in Zusammenhang gebracht und schneidet dementsprechend schlecht bei der Sonntagsfrage ab. Zuletzt gingen auch noch die eigenen Gefolgsleute ziemlich rüde mit Nehammer ins Gericht.

Inhaltlich bewegt sich Karl Nehammer durchaus auf dem richtigen Weg.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Der Aufschrei war enorm, als Nehammer laut darüber nachdachte, die Gewinne von Unternehmen mit Staatsbeteiligung abzuschöpfen, die überproportional von der Energiekrise profitieren – um damit Haushalte zu unterstützen, die unter hohen Gas- und Strompreisen ächzen. Der Aktienkurs des Verbund-Konzerns brach prompt ein, Nehammer wurde abwechselnd des Kommunismus und wirtschaftspolitischer Unfähigkeit geziehen. Besonders in konservativen Kreisen war man empört. Das vom Kanzler einer Wirtschaftspartei? Man sah bereits die DNA der ÖVP in Gefahr. Das ist übertrieben.

Verunsicherung der Mittelschicht

Angesichts der höchsten Reallohnverluste seit den späten 1950er-Jahren, galoppierender Teuerung und einer starken Verunsicherung der Mittelschicht ist es vorausschauend, die Partei so breit wie möglich aufzustellen und zu signalisieren: "Auch die ÖVP hat ein soziales Gewissen." Schließlich besteht auch die potenzielle ÖVP-Wählerschaft nicht nur aus CEOs und Unternehmerinnen. Viele Bürgerinnen und Bürger plagen Abstiegsängste – darauf muss eine Regierungspartei reagieren.

Inhaltlich unterscheidet sich Nehammer gar nicht so sehr von seinem Vorgänger Kurz, der in Sachen Steuerpolitik und Familienbonus fast schon linkspopulistisch agierte. Freilich erweckte Kurz in seiner aktiven politischen Zeit immer den Anschein, dass es ihm primär um Umfragewerte in eigener Sache gehe. Nehammer ist hier im Vorteil: Noch wirkt er authentisch, so als kümmere ihn vor allem der Zustand des Landes. Zudem hat er bisher darauf verzichtet, den grünen Koalitionspartner ausrutschen zu lassen. Das wirkt verbindlich. Er sollte freilich hart an seiner Fehleranfälligkeit arbeiten.

Es ist grundsätzlich richtig, darüber nachzudenken, unerwartete Gewinne aus Ukraine-Krieg und Energiekrise der Allgemeinheit zugutekommen zu lassen. Doch eine Gewinnabschöpfung als Plan zu verkünden, ohne einen solchen fertig in der Schublade zu haben, und nicht erklären zu können, warum man nicht einfach eine höhere Dividende einstreift, ist ein grober handwerklicher Fehler. Nehammer sollte sich gut überlegen, auf wen er hört – nicht nur in wirtschaftspolitischer Hinsicht.

Inhaltlich bewegt sich Nehammer durchaus auf dem richtigen Weg – er sollte dabei nur nicht ständig stolpern. (Petra Stuiber, 14.5.2022)