Rechtsextremismus-Experte Andreas Peham beschreibt im Gastblog, warum Verschwörungsmythen und Antisemitismus so schwer beizukommen ist.

Seuchenzeiten sind verrückte Zeiten, in denen große Teile der bedrohten Menschen sich gegen ihre Angst nicht anders zu helfen wissen, als durch die Flucht in den sozialen (Verfolgungs-)Wahn. Dieser Massenwahn forderte einst seine Opfer: Juden, Jüdinnen und Hexen. Auch wenn noch nicht wieder Scheiter zu Haufen getürmt werden: Die aus gefühlten Kontrollverlusten wachsende Ohnmacht treibt viel zu viele in die Fänge von – letztendlich immer antisemitischen – Verschwörungsmythen. Die geballte Sinnlosigkeit lässt sie in falschen Sinnstiftungen Zuflucht nehmen. Gerade der Antisemitismus vermag seit jeher Sinn zu stiften, wo kein Sinn ist. Und immer schon sind es die Juden, die hinter aller Bedrohung stünden und für jedes Übel verantwortlich seien.

Gesundheitskrisen und Antisemitismus

Dass der Antisemitismus in Krisenzeiten sich rasant verbreitet, gehört zu den Basiserkenntnissen der Geschichtswissenschaft. Es ist die soziale Angst, die – unter dem Einfluss bestimmter Diskurse und in tradierten Verarbeitungsmustern – sich in den Hass auf die Juden verwandelt. Zurecht bestimmte Jean-Paul Sartre den Antisemiten und die Antisemitin als einen Menschen, "der Angst hat. Nicht vor den Juden, vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit und vor jedweder Veränderung, vor der Welt und den Menschen, vor allem – außer vor dem Juden." Vor dem Juden als tradiertes Symbol und Projektionsfläche haben aber (nicht nur) Antisemitinnen und Antisemiten sehr wohl Angst.

Was Schulmedizin geschimpft wurde, stand im Verdacht, eine jüdische Geheimwissenschaft zu sein.
Foto: imago images/Gottfried Czepluch

Was allgemein für die Krise gilt, gilt im Besonderen für Gesundheitskrisen. Die lange Dauer der Zuschreibung von Krankheit und Ansteckung an die Juden legt es nahe, dass sich die diesbezüglichen Ängste als Antisemitismus ein Ventil verschaffen. Als einer seiner Urtexte gilt die alexandrinische Legende von den Juden als Aussätzige. Juden galten aber nicht nur als krank und ansteckend, sondern sie verfügten angeblich auch über geheime oder magische Fähigkeiten, um Seuchen heilen zu können. Was später Schulmedizin geschimpft wurde, stand von Anfang an im Verdacht, eine jüdische Geheimwissenschaft zu sein. Dazu kam die Legende, jüdische Ärzte würden Christen vergiften (wollen). Der erste Pogrom, der solcherart legitimiert wurde, fand 1161 in Böhmen statt. Noch 1610 behauptete die medizinische Fakultät an der Universität Wien, dass jüdische Ärzte verpflichtet wären, jeden zehnten christlichen Patienten zu vergiften. Und dass es Juden sind, die von einem angeblichen "Impfzwang" profitierten und darum den "Impfaberglauben" verbreiteten, wusste schon Eugen Dühring 1881 in seinem Machwerk Die Judenfrage zu berichten. Angesichts dieser Tradition wenig überraschend warnte eine im Juni 2020 veröffentlichte Studie des Kantor Center an der Universität Tel Aviv auf der Grundlage von 35 Länderberichten vor einer "neuen Welle des Antisemitismus" im Gefolge der Corona-Krise.

Verschwörungsmythen

Als August Rohling 1871 den Juden vorwarf, ihre Religion gebiete ihnen, nach der "Herrschaft über das Universum" zu greifen, reihte er sich in eine lange Tradition ein. In einem weiten Verständnis, als Auflehnung gegen die göttliche Heilsordnung ist das Bild von der jüdischen Weltverschwörung so alt wie das Christentum selbst. Den Verschwörungsmythen ist bis heute ihre Herkunft anzusehen. Es wurde im 19. Jahrhundert nur die bedrohte göttliche zur nationalen Ordnung säkularisiert – ihr absolut böser Feind blieb derselbe. So bauten die Protokolle der Weisen von Zion auf einer langen Kette ähnlicher Wahnvorstellungen auf. Der in den Protokollen verdichtete Mythos bediente dementsprechend eine verbreitete Erwartungshaltung, was ein maßgeblicher Grund für deren Erfolg war.

Hannah Arendt wies darauf hin, dass die Nazis, die sich 1929 die Rechte an den Protokollen sicherten, tatsächlich so handelten, "als ob die Welt von den Juden beherrscht sei und einer Gegenverschwörung bedürfe, um gerettet zu werden". Wer wirklich an die jüdische Weltverschwörung glaubt, kann gar nicht anders, als jedes Mittel für recht zu befinden, um der Bedrohung ein Ende zu bereiten. Die mörderische Dynamik des Antisemitismus entspringt maßgeblich seiner Verbindung mit dem Verschwörungsmythos. Nicht zuletzt darum ist er als Bedrohung ernst zu nehmen und nicht als Spleen abzutun.

Neben der Berücksichtigung seiner Kontinuität scheint es angebracht, den Glauben an eine jüdische Weltverschwörung gleich dem vorausgehenden Gottesmordvorwurf und die von ihm abgeleitete jüdische Macht dem definitorischen Kern des Antisemitismus zuzurechnen. Es reicht nicht aus, Juden als böse und feindlich zu markieren, um den Hass dauerhaft zu motivieren, erst der Verschwörungsmythos vermag es, aus Menschen eine Masse aus Gläubigen zu formen und aus dem Antisemitismus eine "Alltagsreligion" (Detlev Claussen) zu machen.

Die ewige Projektion

Die lange Dauer des Antisemitismus macht die aktuellen Legenden so erfolgreich. Sie verschafft auch den jüngsten Ausformungen des Verschwörungsmythos ein Gefühl der Vertrautheit. Und dieses Gefühl ist maßgeblich dafür verantwortlich zu machen, ob eine Information für wahr gehalten wird. So trügerisch ist der vielzitierte "Hausverstand". Im christlichen Abendland mussten stets Juden die prototypischen Verschwörer geben, die modernen Verschwörungsmythen entfalteten sich auf den alten Pfaden, auf welchen die Kirchen ihre Schafe seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzten. Dazu wurden die Juden zunächst mit dem Teufel in Zusammenhang gebracht. Von ihm stamme die unheimliche Macht, mit der sie Jesus getötet hätten und die Christenheit bedrohten. Dann wurde das Feindbild früh als globales konstruiert: Dass die Juden die gesamte nicht-jüdische Menschheit hassen würden, behauptete schon Tacitus – wie alles am Antisemitismus eine Projektion, in diesem Fall des eigenen Hasses. Schließlich machte die – selbst schon erzwungene – Diaspora-Existenz der Jüdinnen und Juden aus diesen ideale Projektionsflächen für jene (verdrängten) Wünsche und Ängste, die sich um Freiheit, Mobilität und Zusammenhalt gruppieren. Der Jude wurde zum Symbol des Inter- und darum Außer- und Anti-Nationalen – bis heute steht international in antisemitischen Diskursen für jüdisch.

Antisemitische Vergemeinschaftung

Kontinuität ist auch in den psychischen Funktionen des Verschwörungsmythos zu finden, allen voran in der Bildung von esoterischer Gemeinschaft, der Ermöglichung der Verwandlung von abstrakter Furcht in konkrete Angst und in der narzisstischen Zufuhr, welche die Entlarvung bereitet. An ihm lässt sich die Erklärungsfunktion des Antisemitismus gut zeigen: Diese bedeutet nach Rainer Erb und Michael Kohlstruck "Selbstermächtigung durch Pseudo-Erkenntnis" und "vermittelt die Illusion der Kontrolle, die insbesondere für die Verarbeitung von Krisenerfahrungen wichtig ist. […] Nichts geschieht zufällig, alles was geschieht ist determiniert und intendiert von einer kleinen, aber mächtigen Gruppe von Verschwörern."

Weil Verschwörungsmythen und Antisemitismus wichtige (Selbsterhaltungs-)Funktionen für Individuen und Gruppen haben, ist ihnen so schwer beizukommen. Zudem sind sie als soziale Fantasiebildungen per Definitionem nicht zu widerlegen – was ihre politische Instrumentalisierung nahelegt. Während die antisemitischen Mythen in arabischen Ländern und im Iran, aktuell die Hauptverbreitungsregionen der Protokolle, weiter im Dienst politischer Herrschaft stehen, sie aber auch in den zunehmend autoritär regierten Staaten Osteuropas, allen voran Ungarn, von offiziellen Stellen propagiert werden, werden sie in Westeuropa heute kaum mehr unmittelbar herrschaftlichen Interessen dienstbar gemacht. Hier sind es neben der finanziellen Gewinnträchtigkeit der einschlägigen Propaganda vor allem psychische Bedürfnisse, die die Mythen am Leben erhalten. (Andreas Peham, 17.5.2022)

Andreas Peham ist FIPU-Mitglied und in der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich engagiert. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist er in der Lehrer:innenfortbildung und im Rahmen der Politischen Bildung an Schulen tätig. Anfang 2022 ist im Schmetterling-Verlag seine "Kritik des Antisemitismus" erschienen. 

Veranstaltungshinweis

Am 19. Mai wird sein Buch "Kritik des Antisemitismus" in einer gemeinsamen Veranstaltung von Republikanischem Klub und FIPU präsentiert. Nähere Informationen zur Veranstaltung gibt es hier.

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