Jesus auf seinem letzten Weg zur Kreuzigung. Die Passion wird 2022 zum 42. Mal aufgeführt.

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Wer zahlt mir den Schaden?" Laut schallt die Klage eines Mannes im Tempel über die Bühne. Sein Korb fiel um, als der frustrierte Jesus begann, die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel zu vertreiben. All jene, die im Hause Gottes bloß Geschäfte machen wollen.

Weiße Tauben flattern unter "Ah" und "Oh" des Publikums in den oberbayerischen Himmel. Vermutlich hat niemand Mitleid mit dem Händler. Theologen mögen es anders sehen, aber für die meisten der 4400 Zuseherinnen und Zuseher sind die Tierszenen in Oberammergau einfach die schönsten.

Und was da alles zwischen den Menschenmassen auf der Bühne wuselt: Tauben, Pferde, Hähne, Schafe, Ziegen. Sogar ein echtes Kamel ist dabei, und es benimmt sich sehr artig und wirkt relativ desinteressiert. Natürlich bietet all das Getier eine willkommene Abwechslung. Denn das Passionsspiel dauert von 14.30 Uhr bis 22.45 Uhr, einmal gibt es eine dreistündige Pause.

Ab 1634 alle zehn Jahre

Die Passionsgeschichte zählt ja auch nicht zu den leichtesten Stoffen. Aber sie müssen ja, die Oberammergauer, es ist ihnen eine heilige Pflicht. Als 1633 die Pest in der Region wütete, gelobten sie, ab 1634 alle zehn Jahre das Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus aufzuführen, wenn die Seuche sie nur fürderhin verschont. Und so kam es dann in beiderlei Hinsicht.

2010 fanden die letzten Spiele statt. 2020 standen wieder alle in den Startlöchern, doch dann brach Corona über die Welt herein, und Jesus musste erst mal auf die Wartebank. Es war ein Schock für das ganze Dorf. Der Ort lebt für und von den Passionsspielen.

Frauen dabei erst seit 1990

Von den 5200 Einwohnern wirken 2100 bei diesem weltgrößten Laienspiel um die letzten fünf Tage Jesu mit – von den ganz Alten bis zu den Kindern. Die Regularien besagen, dass nur mitspielen darf, wer mindestens seit 20 Jahren in Oberammergau lebt. Gleichberechtigte Teilnahme mussten sich die Frauen erst 1990 vor dem bayerischen Verwaltungsgerichtshof erstreiten. Anno 2022 singen, beten, weinen, leiden und streiten sie allesamt in einer Art Endzeitstimmung. Regisseur Christian Stückl – auch Intendant des Münchner Volkstheaters – schickt sie in eine Kulisse aus düsterem Grau. Der Tempel gleicht einer Gruft, nach zwei Jahren Corona und drei Monaten Krieg in der Ukraine kann man es nachfühlen.

Wenig Farbe im Grau

Manchmal poppen bunte Bilder auf. Die Schlüsselszenen aus dem Alten Testament (Vertreibung aus dem Paradies, das Goldene Kalb, der brennende Dornbusch) sind zwar farbenfroh, aber nur kurz als Standbilder zu sehen. Das Heitere, Leichte hat hier keinen Platz.

Stückl, der auch schon den Jedermann in Salzburg inszenierte, führt zum vierten Mal bei den Passionsspielen Regie. Er stammt aus Oberammergau, ebenso wie Frederik Mayet. Er spielt Jesus, zum zweiten Mal schon. Zornig ist er diesmal und wütend, wer kann es ihm verdenken angesichts der Zustände.

"Weil er gegen die Welt anschreit, wie sie ist, und weil sie sich nicht ändern will", so erklärt Stückl den lauten Jesus 2022. Von ihm bekommen die römischen Besatzer zu hören: "Ihr nehmt dem Volk seine Söhne und schickt sie in euere Kriege!"

Manchmal ist es nicht einfach, im großen Festspielhaus auszumachen, wer was sagt. Jesus, seine Jünger, seine Anhänger, aber auch Gegner und die Hohepriester sind in ähnlichen gedeckten Farben gekleidet.

"Wahre den Frieden"

Aber Jesus ist natürlich der, der stets das Gewaltlose einfordert. Als Judas mit den Worten "Gott will, dass wir uns wehren" den Kampf gegen die Römer aufzunehmen verlangt, antwortet Jesus. "Wahre den Frieden" und warnt später: "Die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen." Es sind Sätze, wie gemacht für die Debatte um Pazifismus, die derzeit in Deutschland geführt wird.

Heller wird es erst, als Jesus zum Schluss am Kreuz stirbt. Da entzünden seine Wegbegleiter Kerzen an und geben das Licht weiter. Doch die tatsächliche Auferstehung verweigert Stückl dem Publikum. Man berichtet bloß, dass Jesu Grab leer ist. Auf die Bühne kommt er nicht wieder. Da muss man dann schon selbst dran glauben. (Birgit Baumann aus Oberammergau, 16.5.2022)