Übergabe bei der ÖVP: Nehammer ließ sich beim Parteitag am Samstag auch von Vorgänger Sebastian Kurz beglückwünschen. In den sozialen Medien sorgte hingegen ein flapsiger Sager zur Virenzirkulation in der Grazer Halle für Wallungen.

Foto: Heribert Corn

Das Türkis ist nicht verschwunden, aber verblasst. Zwar erstrahlte der Wert der 100 Prozent, die Karl Nehammer bei seiner Wahl zum ÖVP-Chef erhielt, in der von seinem Vorgänger eingeführten Farbe am Display, doch darüber hinaus war der Einsatz dezent. Seine Rede absolvierte Nehammer in optischer Eintönigkeit: graues Haar vor grauem Hintergrund.

Der Anschein allein verrät allerdings noch nichts über die Substanz. Ziemlich genau eine Stunde nahm sich Nehammer Zeit, um zu erklären, wie er sein Amt anlegen wolle.

SICHERHEIT

Dies war das große Generalthema, unter das der ehemalige Innenminister seine Obmannrede gestellt hat. Vom Kampf gegen die Energiekrise im Schatten des Ukraine-Krieges über die Nahrungsmittelversorgung ("Unsere Bauern und Bäuerinnen können das.") bis zum Schutz vor Migrationswellen in Tradition des Kurz-Kurses: Beim S-Wort lief alles zusammen. "Wer soll den Menschen Sicherheit geben, wenn nicht die Volkspartei?", fragte Nehammer mit bereits inkludierter Antwort.

Dieser Schwerpunkt sei nur logisch, sagt der auf christlich-soziale Parteien spezialisierte Politologe Fabio Wolkenstein: "Als ehemaliger Law-and-Order-Politiker ist das sein Metier. In dieser unberechenbaren Zeit musste er mit der Vermittlung der ÖVP als Sicherheitspartei reagieren." Allerdings werde die Konkurrenz auf diesem Feld größer: Auch die anderen Parteien fokussierten auf dieses Thema.

KORRUPTION

Aus der Opferrolle, die schon der Vorgänger ausgiebig zelebriert hatte, kam auch Nehammer nicht heraus. "Ganz viele Angriffe unter der Gürtellinie" müsse die ÖVP einstecken, "weil sie’s auf Augenhöhe nicht schaffen", klagte er etwa.

Doch ganz so einfach wollte der neue Chef das unangenehme Thema dann doch nicht beiseiteschieben. Der Kampf gegen Korruption müsse ernsthaft angegangen werden, sagte Nehammer, ließ sich aber zu keiner Andeutung hinreißen, dass speziell die eigene Partei gemeint sein könnte. Korruption, betonte er, "kann uns überall begegnen".

Dass ein ÖVP-Chef da rasch zwischen den Stühlen sitzt, ließ sich schwer verbergen. Nehammer bekannte sich zwar zur Transparenz und schloss das Informationsfreiheitsgesetz dezidiert mit ein. Gleichzeitig redete er aber den blockierenden Bürgermeistern das Wort, indem er sich viel Applaus für den Hinweis abholte, dass Querulanten nicht die Verwaltung lahmlegen dürften. Will der Kanzler den von der Koalition vorgelegten Gesetzesentwurf denn aufweichen? Das wäre ein Affront gegen die zuständige Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, ebenfalls ÖVP.

FREIHEIT

Krisengewinne von staatsnahen Unternehmen abschöpfen? Den Verdacht des Linksrucks bekämpfte Nehammer mit der Geschichte vom heiligen Martin: Dieser habe den eigenen Mantel geteilt und nicht einen fremden – denn Letzteres wäre nicht Solidarität, sondern Sozialismus. Auch die "Freiheit" definierte er als Teil der DNA der Partei, was wohl (bürgerliche) Wählerinnen und Wähler von Neos und Grünen anziehen soll: Während die Linke im Kollektiv denke, schreibe die ÖVP niemandem vor, wie er oder sie zu leben hätte. Rotem Zentralismus stehe das Prinzip der Subsidiarität gegenüber, das bei der Arbeit der Bürgermeister beginne.

PANDEMIE

Dank steigender Temperaturen und damit sinkender Infektionszahlen konnte es sich Nehammer leisten, das Thema Nummer eins der letzten beiden Jahre nur flüchtig zu streifen – im Herbst wird ihm das vermutlich nicht mehr gelingen. Nur für einen Moment schien sich ein mulmiges Gefühl einzuschleichen, das der Redner aber wieder flugs verdrängte: "So viele in so einem kleinen Raum heißt auch, so viele Viren, aber jetzt kümmert es uns nicht mehr – schön, dass ihr da seid!"

LANDLIEBE

Nehammer habe versucht, sich als Anti-Kurz zu präsentieren, fasst Politologe Wolkenstein den Auftritt zusammen: "Keine große Show mehr – abgesehen von der Reise zu Putin." Dazu gehöre, dass die alten Strukturen wieder stärker sichtbar würden: Der Bauernbund etwa habe an Gewicht in der Partei zugelegt, was sich in einer rhetorischen Hinwendung zur Stammklientel auf dem Land ausgedrückt habe. Die ebenso wichtigen urbanen Schichten seien hingegen ausgespart geblieben.

Da hakt auch die Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle ein. "Das Ganze war ja ziemlich retro. Urbanes, intellektuelles Publikum wurde da nicht abgeholt." Unbeantwortet habe der Neo-Obmann auch gelassen, was er mit der Partei vorhat: Will er die von Sebastian Kurz erzwungenen Durchgriffsrechte ausleben?

Ein Meisterstück habe Nehammer nicht abgeliefert, findet Stainer-Hämmerle: "Intellektuell-philosophisch sprühend war die Rede eher nicht, sie kam ziemlich ungeordnet rüber. Ich hatte mir eigentlich mehr erwartet." (Gerald John, Walter Müller, 16.5.2022)