Jedes Kind hat das Recht auf einen gewissen Grundbetrag, gestaffelt nach dem Elterneinkommen, sagt Jasmine Chansri: "Es geht um die Frage, wie man sich zum Sozialstaat bekennt."

Alexander Schwarzl

Die Landespolitik hat die einstige SPÖ-Nachwuchshoffnung Jasmine Chansri hinter sich gelassen. Über Probleme nicht nur zu politisieren, sondern aktiv Lösungen zu erarbeiten sei erfüllender, meint Chansri beim Treffen in der Volkshilfe-Zentrale in der Linzer Glimpfingerstraße.

STANDARD: Strom, Gas, Benzin, Lebensmittel – viele können die Preise nicht mehr stemmen. Spürt man das auch bei der Volkshilfe, wird die Klientel, die Unterstützung braucht, mehr?

Chansri: Wir spüren das auf zwei Ebenen. Natürlich bei unserer klassischen Klientel, den Armutsbetroffenen, die von der Teuerung extrem betroffen sind. Und hier tut sich ein weiteres Problem auf: Für unsere zwei Sozialmärkte in Oberösterreich kriegen wir kaum noch Lebensmittel. Einerseits aufgrund der generellen Engpässe im Moment, andererseits schnüren Lebensmittelketten immer öfter am Abend Pakete mit Angeboten, die dann noch rasch verkauft werden.

STANDARD: Aber das Angebot rückt auch immer mehr in Richtung Mittelstand, oder?

Chansri: Auf jeden Fall. Wir spüren das tagtäglich in unserer Arbeit. Auch für Menschen, die bislang kein Problem hatten, wird es jetzt mitunter eng.

STANDARD: Die Politik tut sich aktuell schwer, konkrete Maßnahmen zu setzen. Was würde es dringend brauchen, um den Preisdruck zu senken?

Chansri: Europa ist insgesamt gefordert, sich anzuschauen, wie man aus der Energieabhängigkeit von Russland kommt und selbstständiger werden kann. Da müsste Österreich jetzt reagieren, Strategien entwickeln und eigene Reserven aufbauen. Aber natürlich braucht es jetzt auch Akutmaßnahmen. Das würde ich mir in einem reichen Land wie Österreich schon wünschen.

STANDARD: Die Schere zwischen Arm und Reich geht aber nicht erst seit dem Ukraine-Krieg weit auseinander. Hat da vielleicht auch die Volkshilfe der Politik oft zu sanft auf die Finger geklopft?

Chansri: Wir haben in den letzten Jahren immer auf diese dramatische Entwicklung hingewiesen. Geändert wurde nicht viel. Wir feiern gerade 75 Jahre und sind ja nach dem Krieg von jüdischen Emigranten aufgebaut worden. Und eigentlich ist es schlimm, dass wir heute als Volkshilfe mehr denn je gebraucht werden.

STANDARD: Also hat die Politik entsprechende Maßnahmen verschlafen?

Chansri: Verschlafen wahrscheinlich nicht. Aber es fehlt einfach eine Gesamtstrategie. Man hofft, dass andere die Lösungen finden. Was ja zu einem großen Teil auch passiert. Die großen Herausforderungen im Pflegebereich werden von Organisationen, aber auch von pflegenden Angehörigen gestemmt.

STANDARD: Österreich ist eines der reichsten EU-Länder. Trotzdem sind hier rund 1,2 Millionen Menschen armutsgefährdet. Da sind Rufe nach einer politischen Gesamtstrategie wohl zu wenig. Wie sollte man konkret gegensteuern?

Chansri: Das Sozialsystem funktioniert nur kurz und anlassbezogen. Es wird schwierig, wenn alles teurer wird. Es geht um Steuerpolitik, um Steuerentlastung. Wenn die Reichen immer reicher werden, wird es schwer. Es wäre höchst an der Zeit, Vermögen zu besteuern.

STANDARD: Die Vermögenssteuer als rotes Wundermittel ...

Chansri: Das ist bitte ein gesellschaftspolitisches Thema und ein finanzpolitischer Zugang. Und auch Ökonomen sprechen sich für eine Umverteilung aus. Ich bin lange genug im Aufsichtsrat gesessen und habe gesehen, wie das Anschaffen von Geld steuerlich begünstigt ist. Aber konkret: Es braucht eine sofortige Anhebung der bestehenden Sozial- und Transferleistungen sowie langfristig strukturelle Verbesserungen des Arbeitslosengeldes und der Mindestsicherung.

STANDARD: Besonders stark zugenommen hat in Österreich die Kinderarmut. 368.000 Personen unter 18 Jahren waren 2021 armuts- und ausgrenzungsgefährdet – also jedes fünfte Kind in Österreich. Die Volkshilfe fordert diesbezüglich vehement eine Kindergrundsicherung. Können wir uns diese Maßnahme im Moment überhaupt leisten?

Chansri: Geld ist in Österreich genug da. Es ist eine Frage der Umverteilung. Und es geht um die Frage, wie man sich zu einem Sozialstaat bekennt. Die Kindergrundsicherung stellt eine volkswirtschaftliche Investition dar und ist ein wirksames und effizientes Instrument in der Bekämpfung von Kinderarmut.

STANDARD: Wie sollte die Kindergrundsicherung konkret aussehen?

Chansri: Jedes Kind in Österreich hat bis zum 18. Lebensjahr den Anspruch auf einen bestimmten Betrag, gestaffelt nach Einkommen. Die universelle Komponente in der Höhe von 200 Euro würden alle Kinder erhalten, was mit den derzeitigen Familienleistungen vergleichbar ist. Die einkommensgeprüfte Komponente von zusätzlich bis zu 425 Euro würde abhängig vom jährlichen Familien einkommen ausbezahlt. Neu ist zu sagen, dass eben auch ein Kind einen Anspruch hat.

STANDARD: Aber wird nicht letztlich suggeriert, dass man Kinder unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern aus der Armut befreien kann? Minderjährige sind doch arm, weil ihre Eltern arm sind, oder?

Chansri: Es stimmt so nicht. Wir haben in Oberösterreich einen Versuch gestartet: eine Familie an der Armutsgrenze – zwei Elternteile, drei Kinder. Über zwei Jahre wurde die Kindergrundsicherung ausgezahlt. Und die Eltern haben es in dieser Zeit aus der Armutsfalle geschafft. Weil sie die Entlastungen für die Kinder gehabt haben. Eine Betreuung war wieder möglich, die Kinder konnten an Schulveranstaltungen teilnehmen. (Markus Rohrhofer, 17.5.2022)