Der bevorstehende Antrag Finnlands und Schwedens zur Aufnahme in die Nato ist eine in ihrer Tragweite noch nicht einmal abschätzbare politische und strategische Niederlage für den russischen Diktator Wladimir Putin. Kein Wunder, dass wie immer in Krisensituationen Scheindebatten über den Sinn der mit dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 (nicht im Staatsvertrag!) beschlossenen "immerwährenden Neutralität" entstehen. Der berühmteste Ausspruch stammte bekanntlich von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel aus dem Jahr 2001 über "die alten Schablonen Lipizzaner, Mozartkugeln und Neutralität, die in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr greifen".

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Das Nato-Hauptquartier in Brüssel.
Foto: AP Photo/Olivier Matthys

Österreich ist umgeben von Nato-Staaten und von der neutralen Schweiz. Die Gefahr des Übergreifens von Kampfhandlungen auf österreichisches Gebiet bestand im November 1956 bei der blutigen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands durch die Sowjets und im Juni 1991 bei dem Angriff der jugoslawischen Armee nach der Proklamation der Unabhängigkeit auf das benachbarte Slowenien.

Auch die Enthüllungen eines übergelaufenen tschechoslowakischen Armeegenerals über eine mögliche Besetzung Österreichs durch die Truppen des Warschauer Pakts mit dem Losungswort "Polarka" zwecks eines Überfalls auf Jugoslawien sorgten Ende 1973 für zeitweilige Aufregung.

Unrealistische Scheindebatte

Alle Umfragen bestätigen das Festhalten der Österreicher an der Neutralität als eine Art "Gründungslegende der Zweiten Republik – zehn Jahre nach dem realen Gründungsakt vom 27. April 1945". (Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik). Daran änderte der russische Angriffskrieg überhaupt nichts. Auf die Frage "Wie wichtig ist Ihnen persönlich die österreichische Neutralität?" antworteten am 3. und 4. März dieses Jahres 70 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher mit "Sehr wichtig" und weitere 21 Prozent mit "Eher wichtig". Also für neun von zehn Menschen bleibt sie mehr denn je ein Identitätsmerkmal und Stabilisierungsfaktor. Sollte am kommenden Wochenende eine Volksabstimmung über den in dem soeben veröffentlichten, von 50 Persönlichkeiten verfassten offenen Brief als "denkbar" bezeichneten Beitritt Österreichs zur Nato stattfinden, so würden sich zwei Drittel dagegen aussprechen, und nur 17 Prozent wären dafür.

Es handelt sich also um eine politisch völlig unrealistische Scheindebatte über das falsche Thema. Man braucht nur den von dem leider nur sieben Monate amtierenden Verteidigungsminister Generalmajor Thomas Starlinger am 17. September 2019 vorgelegten "Zustandsbericht Unser Heer 2030" zu lesen, um zu wissen, was zu tun wäre.

Derzeit ist Österreich ein Schlusslicht in der EU bei den Verteidigungsausgaben (0,6 Prozent des BIP). Die vom Bundeskanzler Karl Nehammer angekündigte Erhöhung auf ein Prozent ist nur der erste Schritt. Die wichtigste Maßnahme zum besseren Schutz unseres Landes wäre, dass nach der jahrzehntelangen Serie von Amateuren endlich fachlich geeignete, unabhängig handelnde Persönlichkeiten die Verantwortung für die überfälligen Reformen und für die sinnvolle Verwendung des erhöhten Budgets übernehmen. (Paul Lendvai, 17.5.2022)