Manchmal sitzen Anna und Liliana auf der Donauinsel und füttern Schwäne. Sie machen Videos mit ihrem Mobiltelefon. Darauf hört man die die jungen Frauen kichern und kann zusehen, wie sie einem Schwan mit offener Hand Erdnusslocken entgegenstrecken.

Vor drei Monaten hätten sie um diese Tageszeit noch als Marketingleiterin beziehungsweise Buchhalterin in Kiew gearbeitet. Dann hat das Schicksal die 23-jährigen Ukrainerinnen in unser Leben gespült. Anna und Liliana, Freundinnen seit der Volksschule, hatten gute Jobs, Zukunftspläne, eine schöne Wohnung. Jetzt existiert all das nicht mehr.

Daten, trotz allem

Wir helfen, so gut es geht. Wir lernen voneinander. Anna und Liliana lernen, dass wir das Land der Butter-aufs-Brot-Schmierer sind. Sie lachen und sagen: "Egal, ob Schinken oder Marmelade, bei uns ist immer schon alles im gebackenen Brot drin."

Wir lernen, wie das aussieht, wenn man mit Mut und Kraft nach vorn blickt, trotz allem: Anna hat sich auf einer österreichischen Datingplattform angemeldet. Gestern hatte sie ihr erstes Rendezvous mit einem Ukrainer in Wien.

Liliana, ihre Freundin, sieht sich lieber in ihrer Heimat um. Seit kurzem kommuniziert sie mit einem jungen Kampfflieger an der Front. Er hat ihr einen Liebesbrief geschrieben, den will er ihr zusammen mit einer leeren Patronenhülse schicken. Liliana fragt, ob es okay ist, wenn sie dazu meine Adresse angibt. Gemeinsam warten wir jetzt auf Post aus Mariupol.

Radikal ehrlich

Parallel zum Krieg vor unserer Haustüre finden in meinem Bekanntenkreis Abnabelungsmanöver statt: Viele lesen das Buch Radikal ehrlich von Brad Blanton. Der Psychotherapeut hat den Ratgeber 1995 veröffentlicht, heute scheint er aktueller denn je zu sein.

Man lernt, dass es heilsam ist, auf Körpersignale zu hören ("Der Körper lügt nicht") und sich aus überholten Systemen auszuklinken. Plötzlich traut man sich, Familienfeste abzusagen, Beziehungen oder Mietverträge aufzukündigen.

Zur selben Zeit kann man dabei zusehen, wie Reality-TV-Star Kim Kardashian in einem Kleid von Marilyn Monroe die Met-Gala in New York betritt.
Foto: APA / AFP / Angela Weiss

Zur selben Zeit kann man dabei zusehen, wie Reality-TV-Star Kim Kardashian in einem Kleid von Marilyn Monroe die Met-Gala in New York betritt. Einst hatte Monroe in dem funkelnden Nichts "Happy Birthday" für den Präsidenten gehaucht, drei Monate später war sie tot.

All das blendet Kardashian aus, um mit ihrem fitnessgestählten Körperpanzer über eine verletzliche Ikone zu triumphieren. Die kluge Modetheoretikerin Barbara Vinken sagt dazu in einem Spiegel-Interview: "Sie hat nicht die Größe, Schwäche zu zeigen." Schönheit ist das Gegenteil von Perfektion. (Ela Angerer, RONDO, 22.5.2022)