Strammstehen klappt im Bundesheer, doch in Sachen Verteidigungsfähigkeit sieht es schlechter aus. Ist Österreich ohne Nato noch sicher?

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Seit rund 15 Jahren gibt es keine zweite Meinung. So sehr sich die sicherheitspolitischen Ansichten im Detail auch unterscheiden mögen, gegen eine Vision traten die heimischen Parlamentsparteien stets in unerschütterlicher Einigkeit auf: einen Beitritt Österreichs zur Nato.

Allerdings schien das in Schweden und Finnland lange Zeit ähnlich zu sein. Trotzdem schicken sich die beiden nordischen Länder nun an, an das von den USA dominierte nordatlantische Verteidigungsbündnis anzudocken. Russlands Angriff auf die Ukraine habe alte Überzeugungen ausgehebelt, argumentieren die sozialdemokratisch geführten Regierungen der bislang bündnisfreien Staaten: Die Welt habe sich als deutlich unsicherer herausgestellt als erhofft.

Gilt diese Lehre nicht auch für das neutrale Österreich, ein ähnlich wohlhabendes, aber auch ähnlich kleines Land? Lassen sich Regierung und/oder Opposition vom schwedisch-finnischen Beispiel beeindrucken?

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Auf Nachfrage des STANDARD zeichnet sich kein Meinungsumschwung ab. Das beginnt beim Bundeskanzler. Es gelte, die souveränen Entscheidungen eines jeden Landes zu respektieren, lässt Karl Nehammer ausrichten. Doch das ändere nichts an der Bewertung für Österreich: "Wir bleiben neutral."

Warum, versucht der ÖVP-Chef bei jeder passenden Gelegenheit zu erklären. Die Neutralität habe dem Land nie geschadet, sondern immer nur geholfen, argumentiert er: In dieser Rolle könne Österreich bei EU- und Uno-Missionen "internationale Solidarität leben", aber in Konflikten trotzdem den Vermittler spielen.

Hoffen auf Beistand in der EU

Doch bietet dieser Status auch Schutz vor etwaigen Aggressoren? Nehammer pocht darauf, dass das EU-Reglement im Falle eines bewaffneten Angriffs längst die Pflicht zur gegenseitigen Hilfe vorsieht. Nach dem Gipfel von Versailles im März berichtete der Kanzler von einer Zusage großer Nato-Staaten, dass auch jene EU-Mitglieder, die nicht bei der Nato sind, Solidarität erwarten dürften.

Formell hat Nehammer recht. Tatsächlich erinnert der Artikel 42 im EU-Vertrag stark an die viel als Sicherheitsgarantie beschworene Beistandspflicht in der Nato. Obendrein fällt die Auslegung durch namhafte Völkerrechtsexperten für Österreich günstig aus: Dank Neutralität könne sich die Republik heraushalten, falls ein EU-Mitglied um militärische Hilfe bitten sollte. Werde hingegen Österreich angegriffen, seien die anderen Staaten zum Beistand verpflichtet.

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De facto gibt es aber begründete Zweifel an der Wirksamkeit. Denn der EU-Vertrag verankert auch das Prinzip, dass für die Mitglieder der Nato ebendiese "das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung" sei. Im Fall eines mehrere EU-Länder umspannenden Konflikts könnte der Beistand für Nato-Verbündete also Vorrang haben. Das neutrale Österreich müsste sich womöglich hinten anstellen.

Außerdem stellt sich die Frage, ob die EU-Staaten allein die Verpflichtungen überhaupt erfüllen könnten. Nur die Nato bietet eingespielte Strukturen – und die übermächtige Weltmacht USA als Partnerin.

Weiter von Russland entfernt

Doch auch die Verteidigungsministerin, ebenfalls ÖVP, findet das nicht verlockend. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehöre in der EU "endlich ernsthaft" weiterentwickelt, fordert Klaudia Tanner, Österreich werde dieses Projekt "selbstverständlich" voranzutreiben versuchen. Aber ein Nato-Beitritt? "Diese Frage stellt sich nach wie vor nicht", sagt die Ministerin und hält den Vergleich mit Schweden und Finnland für nicht stichhaltig: "Aufgrund der geografischen Situation und der direkten Nachbarschaft zu Russland haben diese Länder eine andere Bedrohungseinschätzung."

Ähnlich argumentiert die kleinere Regierungspartei. Die schwedisch-finnische Position sei nachvollziehbar, heißt es aus dem Büro von Vizekanzler Werner Kogler: Diese sei Ergebnis der Nähe zum Putin-Staat, inklusive "ständiger russischer Bedrohungen und Provokationen". Aus einer größeren Perspektive erhöhe der Beitritt der nordischen Staaten überdies die Sicherheit der baltischen Länder.

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Österreich hingegen sei nicht nur geografisch, sondern auch in puncto Stimmungsbild in einer anderen Lage: Die Bevölkerung stehe nach wie vor hinter der Neutralität.

Allerdings verwechselten die Grünen Neutralität nicht mit "Neutralismus", fügt Kogler an. Zu dieser Haltung gehöre nicht nur die volle Unterstützung der Sanktionen gegen Russland, sondern auch "aktives Engagement". Als ein Beispiel hebt er hervor, dass in Wien der Atomstreit mit dem Iran und andere Abrüstungsfragen verhandelt werden.

Misstrauen links der Mitte

Abgesehen davon gibt es links der Mitte noch traditionelle Vorbehalte gegen die Nato als angebliches Instrument von Aufrüstung und Imperialismus, das gilt auch für die SPÖ. Selbst im Ukraine-Konflikt sehen manche in den roten Reihen die Ausdehnung des US-dominierten Bündnisses auf ehemalige Ostblockstaaten zwar nicht unbedingt als Rechtfertigung der russischen Invasion, aber doch als Provokation.

Die Parteispitze verwendet andere Argumente. Vizeklubchef Jörg Leichtfried verweist ebenfalls auf die unterschiedlichen Voraussetzungen: "Schweden hat vor 20 Jahren seine Neutralität aufgegeben und auf den Status der Bündnisfreiheit reduziert. Finnlands geopolitische Lage mit einer Über-1000-Kilometer-Grenze zu Russland ist nicht mit der Österreichs vergleichbar."

Auch an der Vermittlerrolle kommt Leichtfried nicht vorbei. Österreich müsse diese Aufgabe intensiver verfolgen, sagt er: Ziel müsse sein, dass es gar nicht zu einer Situation wie in der Ukraine komme. Das – und nicht der Nato-Beitritt – sei die Lehre, die sich aus der gesetzlich verankerten immerwährenden Neutralität ergebe.

FPÖ-Wehrsprecher Eugen Bösch vertritt eine ähnliche Position, tanzt bei einer Schlussfolgerung aber dennoch aus der Reihe. Österreich solle sich dafür einsetzen, dass "das schrankenlose Drehen an der Sanktionsschraube" gegen Russland ein Ende habe. Dann werde sich die Gelegenheit bieten, als Verbinder zwischen den Kriegsparteien aufzutreten. Von der Nato übernehmen will Bösch nur das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Landesverteidigung auszugeben – was in etwa einer Verdreifachung des aktuellen Budgets entspräche.

Wenn das Volk einfach nicht will

Die einzige Kraft im Parlament, die am Status quo rüttelt, sind die Neos. Vizeklubchef Nikolaus Scherak wäre bereit, die Neutralität zu opfern – allerdings nicht für einen Nato-Beitritt, sondern nur zugunsten eines gemeinsamen europäischen Heeres.

Ob ein eingespieltes Bündnis nicht rascher und verlässlicher Schutz biete als eine vage Zukunftsvision, die womöglich nie Realität wird? In der Nato würde sich Österreich in Abhängigkeit von Kräften außerhalb der EU begeben, hält Scherak entgegen, siehe türkischer Widerstand gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands. Und eine unmittelbare Bedrohungslage, die eine rasche Reaktion erfordere, zeichne sich für Österreich auch nach Putins Angriff auf die Ukraine nicht ab.

Geschlossene Reihen also? Nicht ganz. In der ÖVP, die von Mitte der Neunziger- bis in die 2000er-Jahre hinein offiziell den Nato-Beitritt angestrebt hat, hätten manche auch heute viel weniger Probleme mit einem solchen Schritt als offiziell erlaubt. Das Gleiche gilt für die Neos und wohl auch für die FPÖ.

Doch dass maximal Politpensionäre wie die beiden ÖVPler Andreas Khol und Werner Fasslabend derart ketzerische Meinungen kundtun, hat einen Grund. Offenbar können Kriege gar nicht so nahe rücken, dass sich die Mehrheit der Österreicher nicht mehr durch die Neutralität geschützt fühlen würde. Laut einer Umfrage des IFDD-Instituts lehnen drei Viertel einen Nato-Beitritt ab. Das Ergebnis stammt von Anfang Mai, als ukrainische Städte längst in Schutt und Asche lagen. (Gerald John, 17.5.2022)