Simon Koschut sieht Österreich aktuell nicht akut bedroht.

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"Ganz sicher nicht", antwortet Simon Koschut, Professor für Internationale Sicherheitspolitik an der deutschen Zeppelin-Universität Friedrichshafen, auf die Frage des STANDARD, ob er vor sechs Monaten darauf gewettet hätte, dass Schweden und Finnland bald schon der Nato beitreten werden. Die sicherheitspolitische Identität dieser Staaten, wie Koschut es ausdrückt, war seit Jahrzehnten von der Bündnisfreiheit geprägt. Und doch hat sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine der Wind gedreht.

STANDARD: Wie verändert der anstehende Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens die Sicherheitsarchitektur im Norden Europas?

Koschut: Für die Nato ist die Erweiterung ein substanzieller Gewinn, nicht nur geostrategisch, sondern auch, was die Armeen betrifft. Vor allem die Finnen – aber auch die Schweden – gehören zu den bestausgerüsteten Armeen Europas. Wir haben es mit einer völlig anderen Situation zu tun als etwa bei der Osterweiterung der Nato, als man im Westen doch Überzeugungsarbeit leisten musste. Für Nordeuropa ergibt sich nun eine bessere Überschneidung zwischen EU und Nato, was es diesen Staaten einfacher machen wird, militärisch zu kooperieren.

STANDARD: Ist die oft zitierte EU-Armee nun eigentlich endgültig vom Tisch?

Koschut: So weit würde ich nicht gehen. Sowohl die Finnen als auch die Schweden sind aber als EU-Mitglieder auch Teil der europäischen Verteidigungsunion. Beide hätten sich auch von der EU Sicherheitsgarantien einholen können – das war ihnen aber ganz offensichtlich nicht genug. Das ist das alte Problem: Die EU kann zwar Sicherheitsgarantien aussprechen, sie aber nicht militärisch absichern. Die Dynamik wird in Europa sicherheitspolitisch daher eher in Richtung Nato gehen.

DER STANDARD

STANDARD: Welche Herausforderungen stellen sich der Nato im Norden?

Koschut: Das muss man im Detail erst sehen. Ungeklärt ist etwa, ob Finnland und Schweden bei der sogenannten nuklearen Teilhabe mitmischen wollen. Wenn ja, hieße das unter Umständen auch, Atomwaffen in diesen Ländern zu stationieren. Das halte ich derzeit für ausgeschlossen. Irgendwie wird man das riesige Territorium aber sichern müssen. Ich kann mir vorstellen, dass es vorerst keine permanenten Nato-Stützpunkte in Finnland und Schweden geben wird, sondern rotierende Stützpunkte wie im Baltikum, wo Nato-Truppen alle drei Monate wechseln. Das wird auch notwendig sein, um die Nato-Ostgrenze, die sich verdoppeln wird, vor einer etwaigen russischen Aggression zu schützen.

STANDARD: Wie schnell kann der berühmte Artikel 5 – also der Bündnisfall – eigentlich bei Neumitgliedern greifen?

Koschut: Grundsätzlich sehr schnell, wie man etwa am 11. September 2001 gesehen hat. Man muss aber wissen, dass ein Bündnisfall der Zustimmung aller Nato-Staaten bedarf. Hier droht etwa ein türkisches Störfeuer, das haben wir auch schon bei sehr sensiblen Fällen gemerkt. In Brüssel hat es etwa zu Kopfschütteln geführt, dass die Türkei 2014 verhindert hat, dass die Nato den baltischen Staaten nach der Annexion der Krim Sicherheitsgarantien ausstellt. Und auch jetzt versucht Ankara, den Preis hochzutreiben.

STANDARD: Schweden will nach Aussage von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson nicht das einzige Nicht-Nato-Land in der Region sein, weil dies "verwundbar" mache. Wie lange kann Österreich der Nato noch fernbleiben?

Koschut: Geopolitisch ist die Situation für Österreich natürlich eine andere, weil das Land nicht an Russland grenzt. Das Problem ist eher, dass Österreich als neutrales Land an der sicherheitspolitischen Planung in Europa nur am Rande beteiligt sein wird. Da muss man sich schon die Frage stellen, ob man nur zusehen will dabei oder sich selber auch beteiligen will. Dieser Faktor spricht für einen Nato-Beitritt, geopolitisch sehe ich für Österreich aber keinen unmittelbaren Handlungsdruck. (Florian Niederndorfer, 17.5.2022)