Manchmal verstellen die großen, angeblich superwichtigen Events den Blick auf kleine, spannende Projekte: In Schönbrunn 1.000 Höhenmeter zu laufen oder nach Bratislava zu schwimmen ist nämlich nicht nix – sondern schön. Schön "dings"

Wie oft Christoph Sander mich erinnert hat? Keine Ahnung. Aber: mea culpa. Denn nicht nur auf den ersten, sondern auch auf den zweiten und dritten Blick war das Projekt, zu dem Sander da vergangenes Wochenende lud, eine ganz, ganz tolle Idee: Sander ist Sportwissenschafter. Vor rund zehn Jahren sammelte er als Läufer Staats- und Meistertitel, heute ist er als Läufer "nur" noch einfach schnell und gut – und will dem Laufsport mehr Öffentlichkeit verschaffen.

Darum hatte er für Freitag und Samstag ins LAZ, das Leichtathletikzentrum neben dem Happel-Stadion, geladen.

Diesen Ort kennen, lieben und hassen meine Vereinsbuddies: Wir laufen auch dort. Und staunen stets, wie locker und leicht es wirkt, wenn die dort ebenfalls trainierende Elite vorbeifliegt: Zwischen Laufen und Laufen liegen nämlich Welten.

Foto: Alfred Nevsimal / ÖLV

Das weiß natürlich auch Sander. Doch er weiß noch etwas: Dieser Unterschied macht vielen Leuten Angst. Schwellenangst. Und die Bahn ist die "Schwelle": Dorthin traut man sich als "Normalo" nicht – weil man ja nicht gut genug ist. Angeblich.

Das höre auch ich oft und regelmäßig – von praktisch allen Läuferinnen und Läufern, die ich in Laufgruppen betreue. "Das ist doch nur was für Profis! Die lachen uns doch aus!"

Tun sie nicht. Wirklich nicht. Aber um das herauszufinden, muss man eben auch einmal auf der Bahn laufen: rin klassisches Henne-Ei-Dilemma. (Ganz abgesehen davon, dass es nicht immer einfach ist, als NichtvereinssportlerIn in Österreich da Zutritt zu bekommen. Andere Geschichte.)

Foto: Tom Rottenberg

Christoph Sander, ich wiederhole mich, weiß das alles. Und er weiß noch etwas: Leichtathletik findet hierzulande de facto unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ob das wohl etwas mit Verfügbarkeit der ohnehin kläglichen Sportinfrastruktur (Fußball ausgenommen), der Wertigkeit von Sport in Schule und Politik abseits der Sonntagsreden zu tun haben könnte? Sarkasmus "off", zurück zu Christoph Sander.

Der hat sich nämlich etwas überlegt: einen Event, bei dem auch "Normalos" auf der Bahn laufen können. So wie die Profis. Und mehr noch: mit Profis.

Denn gerade weil auf der Bahn "Laborbedingungen" herrschen, ist es gerade für Einsteiger nicht leicht, dort im Hinblick auf die jeweils angepeilte Distanz auch mit der richtigen Taktik, sprich Gleichmäßigkeit, zu laufen.

Foto: Stefan Langer

Sanders Idee: SpitzenläuferInnen würden bei seiner "Mid Summer Track Night" pacen. Also Runden so abspulen, dass sie am Ende, nach 5.000 Metern, genau definierte Zielzeiten treffen würden. 30 Minuten, 25 Minuten, 20 Minuten und so weiter. Zeiten, die für EliteläuferInnen knapp mehr als Aufwärmcharakter haben, die für die maximal 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des jeweiligen Publikumslaufs aber schwer bis gar nicht zu erreichen wären. Oder zumindest ambitioniert klingen.

Besonders dann, wenn man sie unterbieten möchte, sich irgendwann also trauen muss, beispielsweise einen "gemütlich" pacenden Andreas Vojta (einer der Schnellsten im Lande) zu überholen – und dann auch vorn zu bleiben.

Foto: Stefan Langer

Ergänzend zur Publikums-Track-Night am Freitag mit ihren unterschiedlich schnellen Läufen würde es am Samstag auf dem gleichen Platz über die gleiche Distanz aber professionell und nach den Regeln einer echten Staatsmeisterschaft zur Sache gehen.

Sanders Hoffnung: Viele, die am Freitagabend Bahnluft geschnuppert hatten, würden – hoffentlich – Lust darauf bekommen haben, zu sehen, wie so ein Bewerb abläuft, wenn nicht nur subjektiv, sondern objektiv schnell gelaufen wird.

Ein cooles Konzept. Es ging auch auf.

Und eigentlich hatte ich eh kommen wollen. Doch auch dann, wenn mir in letzter Sekunde nicht etwas dazwischengekommen wäre, hätten Sie diese Geschichte erst danach gelesen.

Das ist schade. Weil die Track-Night gerade für Menschen, die gern, aber eben nur nebenbei laufen, eine echte Horizonterweiterung darstellt. Aber auch systemimmanent: Dieses Format ist per Definition auf Erlebnis- und Nachberichte hin konzipiert.

Foto: Alfred Nevsimal / ÖLV

Manchmal kommt aber sogar das hier zu kurz. Schöne Geschichten bleiben dann liegen. Meist, weil andere in diesem eigentlich subjektiven Universum objektiv wichtiger sind. Etwa wenn Massen in Bewegung sind: Das 200-Jahre-Laufjubiläum der Hauptallee und der VCM, der Vienna-City-Marathon, schossen deshalb Christoph Szalays 1.000-Höhenmeter-Selbstversuch in Schönbrunn ab.

Und der Wings for Life Worldrun überrollte Martina Tschernis Durchschwimmung des Donaukanals am Freitag vergangener Woche und der Donaustrecke zwischen Wien und Bratislava am Samstag, dem Tag vor dem Worldrun.

Ich mag derlei individuelle Bekenntnisse zum "Dings"-Sein. Auch wenn es da weder um Welt- oder andere Rekorde geht. Und es sicher irgendwen gibt, der das so oder anders auch schon gemacht hat.

Darum geht es nicht. Sondern darum, Ideen umzusetzen. Obwohl oder weil sie ein bisserl "dings" sind.

Foto: Tom Rottenberg

Christoph Szalays "Gloriette1000" ist (also: war) genau so etwas: Der ehemalige nordische Kombinierer ist ein versierter und erfahrener Berg- und Trailläufer. "Goriette1000" ist die Fiktion eines Berges, einer alpinen Tour im urbanen Raum und Rahmen. 1.000 ist lediglich eine symbolische Zahl, das Äquivalent zu einer halbwegs ansprechenden alpinen Trail- oder Hikingtour: Wenn ich am kommenden Wochenende auf den Schafberg laufe, sind das 1.200 Höhenmeter – verteilt auf knapp acht Kilometer. Diese Zahl erwarte ich da. Anders in Wien, noch dazu mitten in der Stadt, im Schloss Schönbrunn: Da werden 1.000 Höhenmeter zu einer Absurdität, vielleicht zu einer Dummheit. Vor allem aber zu einer Transformation dieser Landschaft und der Bewegung selber.

Mit einem Wort: "dings".

Foto: Tom Rottenberg

Christoph lief an einem Freitagmorgen. Das war ein bissi doof: Am Donnerstag ist – seit Jahren und immer pünktlich zur Öffnung des Parks um 6.30 Uhr – hier Jean Marie Welbes mit seinem "Frühlauftreff Rollover Schönbrunn" zugange. Man läuft eine halbe Stunde die Serpentinen zwischen dem "Parkett" (also der Ebene zwischen Schloss und Neptunbrunnen) und der Gloriette hinauf und wieder hinunter. Um dem Ganzen ein wenig Redundanz zu nehmen, gibt es ein Motto. Vom "Kuchen-und-Cunnilingus-Tag" (ja, den gibt es wirklich) bis zum Geburtstag der Queen.

Christoph Szalay aber lief die ersten paar Stunden seine Runden mutterseelenalleine– bis auf jene paar, für die Jean Marie Welbes eigens einen Freitagmorgenabstecher in den Park machte.

Foto: Tom Rottenberg

Etwa zur Halbzeit seiner Hügelwiederholungen, also "nach rund 15 Kilometern Stille", erzählte Szalay danach, sei einer seiner ehemaligen Trainings- und ÖSV-Kaderkollegen kurz dazugestoßen. "Der war mit Kind da und Buggy. Er hat das Teil sicher gute sieben oder acht Runden rauf und wieder runter geschoben." Und am Ende sei dann noch sein Bruder vorbeigekommen. "Da bin ich die letzten drei Runden dann noch einmal in sub 6 (also mit einer Pace von weniger als sechs Minuten pro Kilometer, Anm.) gelaufen."

Falls "sub 6" für Sie jetzt nach "nicht besonders schnell" klingt: Ja, für einen trainierten und ausgeruhten Läufer ist das kein besonderes Tempo – in der Ebene. Aber Szalay war ja Hügellaufen: Insgesamt legte er zwischen Neptunbrunnen und Gloriette an diesem Vormittag 36 Kilometer zurück. 1.030 Höhenmeter sagte seine alte Uhr danach. "Wobei: Wahrscheinlich waren es mehr, weil meine Uhr einfach nicht genau ist, leider."

Foto: Tom Rottenberg

Im Gegensatz zu Christoph Szalay kannte ich Martina Tscherni nicht, bevor sie sich irgendwann im Winter meldete. (Szalay hatte mich im Sommer des Vorjahres als Speaker und Guide zu seinem Ausdauer-und-Kunst-Event Endurance & geladen.)

Auch Tscherni lebt und arbeitet im Kunstumfeld. Und auch sie fokussiert auf Bereiche, in denen Kunst den angeblich angestammten Kunstraum verlässt. Ihr "performatives Projekt" (Pressetext) nannte sie "vom Schwimmen im Fluss" – und das traf es punktgenau: Die in Tirol geborene Absolventin der Angewandten wollte am 5. Mai im Donaukanal durch Wien und tags darauf weiter nach Bratislava schwimmen.

Wieso? Weil es geht. Und jeder Traum, jede Idee es verdient, zumindest angedacht zu werden: "Dings" ist kein Grund, es nicht zu versuchen. Im Gegenteil.

© Foto: Georg_Kasebacher@george.casbah

Aber natürlich war da noch ein bisserl mehr dahinter. Zum einen das Thema der "grenzüberschreitenden, gemeinsamen Ökologie in nächster Nachbarschaft", erklärt die Künstlerin/Schwimmerin. "Die Donau als wichtigster gemeinsamer ökologischer Raum der ganzen Region ist der Schauplatz meiner Arbeit. Wien und Bratislava sind die weltweit geografisch nächst zueinander gelegenen Hauptstädte, irgendwann einmal verband sogar eine Straßenbahnlinie die beiden Städte. Kaum jemand empfindet die Strecke als Herausforderung."

Bei ihrem Projekt änderten sich Perspektive und Challenge dann aber doch: "Einfach so", also unvorbereitet und weil man grad lustig ist, schwimmt man den Strom nämlich nicht hinunter: "Dings" hat mit "dumm" oder "lebensmüde" nämlich nichts zu tun.

Foto: © Georg_Kasebacher@george.casbah

Falls Ihnen bei Tschernis Projekt ein thematischer und zeitlicher Konnex zu Cleandanube auffällt, ist das nicht ganz zufällig: Ursprünglich wollte die Wienerin den deutschen Forscher Andreas Fath auf der Wien-Etappe seines Mikroplastik- und Wasserqualitäts-Forschungs- und Awareness-Projekts begleiten. Fath wollte – und hat – damit mit großem Medienecho auf die (Mikro-)Plastikverschmutzung des 2.700 Kilometer langen Stroms hingewiesen: Vier Tonnen Plastik landen über diesen Weg im Schwarzen Meer. Täglich.

Als Tscherni und ich das erste Mal plauderten, lautete der Plan "Begleitschwimmen". Daraus wurde nicht nur nichts, man spricht mittlerweile auch eher nicht mit oder öffentlich übereinander – und schwamm separat.

Foto: © Georg_Kasebacher

Allein war Tscherni dem Strom aber dennoch nicht ausgeliefert. Dass da ein Begleitkajak mit dabei war, versteht sich bei so einem Projekt von selbst. Noch wichtiger, betont die Schwimmerin, war aber, dass ihr ein gewisser Josef Köberl zur Seite stand.

Nicht nur an den beiden Tagen im Wasser, sondern und vor allem auch im Vorfeld: Wenn ich Tscherni richtig verstanden habe, war sie vor diesem Stunt nicht unbedingt eine erfahrene Kalt- und Freiwasser-Langstreckenschwimmerin. Aber in den Wochen und Monaten vor ihrer Reise die Donau hinunter betreute und beriet sie Österreichs Eisschwimmlegende Josef Köberl.

Foto: © Georg_Kasebacher

Dass Köberl dann in der Donau nicht von ihrer Seite wich, sagt Tscherni, sei für das Gelingen des Projekts essenziell gewesen. Auch weil alles anders kam, als sie es erwartet hatte: "Zuerst dachte ich, dass der Donaukanal als Generalprobe für die große Strecke die größere mentale Herausforderung wäre: Wegen des irritierenden Stadtgebiets rechnete ich mit viel Schmutz und so weiter, aber weit gefehlt: Wir schwammen ohne Probleme."

Am zweiten Tag – Einstieg war beim Friedhof der Namenlosen – ging es zunächst ebenfalls gut voran, doch "dann begannen die Strudel im Wasser des Donau-Abschnitts zwischen Wildungsmauer und Hainburg": Die erschwerten immer wieder das Schwimmen, "wir kamen immer wieder in Kehrwasser, aber vor der Fahrrinne der Donau hatte ich Respekt: Dort darf und sollte man nicht schwimmen."

Foto: © Georg_Kasebacher

Hin und wieder, räumt die schwimmende Künstlerin ein, "nahm ich auch das Kajak in Anspruch". Und auch wenn sie dann in Bratislava stolz war, "muss man korrekt sagen: In und auf der Donau erreichte ich Bratislava nach neun Stunden."

Für mich ist das allemal ein Grund, den Hut zu ziehen. Und Geschichten wie diese eben mit Verspätung zu erzählen.

Wobei Tscherni mir das Nichtmitschwimmen ebenso wenig durchgehen lässt wie Christoph Sander das Nichtmitlaufen: Die Track-Night soll es nächstes Jahr wieder geben.

Und auch Tscherni gibt mir eine zweite Chance: "Am 13. Oktober schwimmen wir von Hainburg nach Bratislava zu meiner Vernissage im Kulturforum. Das wäre ein guter Zeitpunkt und genügend Zeit zum Vorbereiten."

Ich glaube, ich sollte langsam mit dem Training beginnen.

(Tom Rottenberg, 17.5.2022)

Weiterlesen:

Die glorreiche Sieben: Vom Laufen mit "normalen" Leuten

Foto: © Georg_Kasebacher