Der Fall wurde am Landesgericht für Strafsachen Wien verhandelt und wird ebendort in eineinhalb Monaten fortgesetzt.

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Wien – Geht es nach dem Polizisten, der im Zeugenstand aussagt, dann war das eine vorbildliche Amtshandlung. Zumindest zu Beginn. Am Ende aber hat ein junger Autist eine Platzwunde am Kinn. Trotzdem ist er es, der sich vor Gericht verantworten muss. Die angeklagten Delikte: versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte Körperverletzung.

Was war passiert an diesem Heiligabend im Jahr 2021? Das Geschehen wird heute, Dienstag, 17. Mai, am Landesgericht Wien verhandelt. E., heute 30 Jahre alt, ging kurz vor Mitternacht irgendwo in Wien bei Rotlicht über eine Straße. Ausgerechnet während ein Polizeiauto vorbeifuhr. Eigentlich war man gerade auf dem Weg zu einem Einsatz wegen Lärmbelästigung, erzählen die drei, die im Auto saßen – ein Beamter, eine Beamtin und ein Aspirant, auch alle nach 1990 geboren – in der Verhandlung. Die Beamtin, die das Auto lenkte, blieb stehen und sprach den Mann auf die Verwaltungsübertretung an. Den Beamten, der einst der Ausbildner der Lenkerin gewesen war, freute das, immerhin sei sie immer recht schüchtern gewesen.

Alkohol, Drogen oder Staatsverweigerer

Und so wollte er eben die Amtshandlung auch wirklich zu Ende führen. Auch wenn er sich, wie er sagt, eigentlich auf einen ruhigen Weihnachtsdienst eingestellt hatte. E. wurde also zur Rede gestellt und habe nicht reagiert. Daraufhin, so sagt es der Beamte, der die Amtshandlung geleitete hatte, habe man ihm "unzählige Male" erklärt, dass man nun seinen Ausweis brauche, damit sei die Sache erledigt. Und dass man ihn festnehmen müsse, würde seine Identität weiter unklar bleiben. Man dachte sich, irgendwas stimme nicht mit dem Mann – der Beamte dachte an Alkohol oder Drogen, die Beamtin an Staatsverweigerer. In der Schule habe sie gelernt, dass die die Polizei nicht ernst nehmen würden.

Als er E. durchsuchen wollte, so sagt der Beamte, habe der seine Hand weggeschlagen – wenig später ist er sich aber nicht mehr so sicher, ob er tatsächlich geschlagen oder nur gefuchtelt habe. "Für mich war das kein normales Verhalten", sagt der Beamte. Die Beamtin spricht davon, E. habe die Hände zu Fäusten geballt und erhoben. Später soll er die Polizeikräfte auch beschimpft haben. Die beiden sahen einander jedenfalls an, fragten "Bereit?" und brachten den Mann zu Boden. Höchst unglücklich, denn er stürzte, erlitt eine Platzwunde am Kinn und Verletzungen an den Zähnen. Man habe ihn nicht halten können, sagen die Polizeikräfte sinngemäß. Ein Strafverfahren gegen die drei wegen Amtsmissbrauchs wurde eingestellt.

Vorwurf: Ziellose und zielgerichtete Tritte

Als E. auf dem Boden lag, so sagen die Beamten und die Beamtin unisono, habe er ziellos zugetreten. Wohlgemerkt, er lag auf dem Bauch, was Strafverteidiger Helmut Graupner auch dazu veranlasst, sich zu fragen, wie man da überhaupt mit den Beinen zutreten könne. Der Aspirant eilte jedenfalls zu Hilfe und fixierte E. zusätzlich an den Beinen, während die beiden anderen ihn an den Armen fixierten. Als E. wieder aufgesetzt war, so lautet der zweite zentrale Vorwurf, soll er dann noch gezielt nach dem Knie eines Verstärkungsbeamten getreten haben, der mittlerweile ebenfalls da war. Der betreffende Beamte ließ sich am Dienstag allerdings entschuldigen, die drei Anwesenden haben den Tritt nicht mit eigenen Augen gesehen.

E. selbst sagt dazu wenig. Er hat Mutismus, eine Sprachstörung, dazu das Aspergersyndrom, eine Variante des Autismus. Leise, aber bestimmt erklärt E. gleich zu Beginn der Verhandlung seine Sicht der Dinge. Etwa, dass er, nachdem die Polizei ihn aufgehalten hatte, nicht mitten auf der Straße stehen blieb und deswegen hinter dem Polizeiwagen vorbei Richtung Straßenrand ging. "Insofern habe ich sehr wohl auf sie reagiert", sagt er. Dass er aggressiv gewesen sei, streitet er ab. Und dass er getreten habe, auch.

Nach eineinhalb Stunden versucht Richter Philipp Schnabel eindringlich, die Hauptverhandlung mit dem Tag zu beenden. Er merkt an, dass außergewöhnlich mildernde Umstände vorliegen würden, und schlägt eine Diversion vor, sollte E. für die Taten Verantwortung übernehmen. E., seine Mutter und sein Anwalt verlassen den Raum, um sich zu beraten. Als der Angeklagte zurückkommt, sagt er nur einen einzigen Satz: "Ich habe nicht getreten."

Der Richter will also ein Gutachten einholen, weitere Zeugen laden und die Verhandlung fortsetzen – nicht ohne noch einmal anzumerken, dass eine Verantwortungsübernahme E.s die Sache hier und jetzt beenden könnte. Der aber bleibt dabei: Er habe keine Gewalt ausgeübt, also wolle er das auch nicht zugeben. Die Verhandlung wird Ende Juni fortgesetzt. (Gabriele Scherndl, 17.5.2022)