Wo vorher ein Riss war, verteilen sich nun unregelmäßig bunte Stiche in Rosa, Orange, Gelb. Eineinhalb Stunden habe ich die Jogginghose bearbeitet, den Riss mit einem Stück Baumwolle hinterlegt, an die Hose geheftet, die beiden Stoffschichten über ein Stück Holz gezogen und mit Sticktwist drauf losgestichelt. Allerdings nicht ohne Plan und zum Glück mit professioneller Unterstützung. Ich sitze im Workshop von Alina Saavedra Santis und Serafina Spatt und habe mich vor meinem Erstlingswerk an Kettstich, Schneiderfliege, Streustich geübt, den technischen Grundlagen des Visible Mendings.

Ich bin nicht die Einzige, die an kreativer Flickarbeit interessiert ist. Eine Handvoll Frauen ist an diesem Samstagvormittag in einem Atelier in Wiens viertem Bezirk zusammengekommen – Bobo-Vibes im Atelier des Taschenlabels Bags With Legs: Birgit (54) arbeitet am Wirtschaftsforschungsinstitut, sie hat schon länger keine Nadel mehr in der Hand gehalten, dafür eine Zeit lang bewusst aufs Shoppen verzichtet. Die Filmstudentinnen Shirin und Julia, beide Anfang 30, haben ein gerissenes Oberteil und einen altersmüden Schal mitgebracht. Bevor die Stücke im Altkleidersack landen, sollen sie die Chance auf ein zweites Leben bekommen.

Alina Saavedra Santis und Serafina Spatt haben die Slowfashion-Plattform Resi gegründet. Sie bieten
Christian Fischer

Innerhalb von drei Stunden werden hier Anstöße gegeben, wie man Kleidung mit wenigen Stichen verschönert und individualisiert. Was man sonst noch erfährt? Der Kettstich lässt am elegantesten Fettflecken verschwinden, die sogenannte Schneiderfliege bedeckt besonders effizient kleine, von Katzenkrallen verursachte Löcher, und während des Streustichelns lässt es sich nahezu meditieren.

Kettstich, Schneiderfliege oder Streustich: Bevor man loslegt, lohnt es sich, die Grundlagen zu lernen.
Christian Fischer

Alina Saavedra Santis und Serafina Spatt vermitteln aber nicht nur technische Grundlagen, sondern auch das kreative Potenzial und die möglichen Auswirkungen des "sichtbaren Reparierens": Auf dem Arbeitstisch liegen Bücher wie Loved Clothes Last von Orsola de Castro, Mitgründerin der Bewegung Fashion Revolution.

Nachhaltige Bewegung

Die Schneiderin und die Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie kennen sich seit der Volksschule. Die Mittdreißigerinnen, die seit vergangenem Jahr die Lebensdauer lädierter Kleidung verlängern, haben aber noch mehr gemein. Sie sind Überzeugungstäterinnen: Ihr Projekt "Resi" verstehen sie als Plattform für Slow Fashion. Neben den Workshops bieten sie auch einen Reparaturservice an. Selbst die Materialien, die sie zum Flicken verwenden, stammen aus zweiter Hand: Garne wurden über die Onlineplattform Willhaben besorgt, einige Rollen hat das Wiener Stricklabel Rudolf gespendet, die Volkshilfe hat Denimfetzen zur Verfügung gestellt. Santis und Spatt sind Teil einer nachhaltigen Bewegung, die während der Pandemie an Fahrt aufgenommen hat. Während der Lockdowns entdeckten viele ihre Begeisterung für die Handarbeit (wieder). Auch Visible Mending ist seither auf den Social-Media-Kanälen präsenter. Wurden löchrige Socken oder Risse in Hosen früher möglichst unsichtbar repariert, sind die Reparaturen nun zu einer Instagram-tauglichen Kunstform geworden: Mehr als 144.000 Einträge unter dem Hashtag #VisibleMending sprechen eine klare Sprache.

Wer so flickt, tut das nicht mehr unbedingt aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus. Ein schönes Beispiel dafür sind die feinen Strickreparaturen der schottische Designerin Flora Collingwood-Norris. Sie wurden bereits in Modemagazinen wie der "Vogue" vorgestellt. Die Londonerin Celia Pym, die beschädigte Strickpullover in echte Kunstwerke verwandelt, arbeitete im vergangenen Sommer sogar mit dem Modedesigner John Galliano für die Couture-Kollektion von Margiela zusammen.

Maison Margiela

Arty Reparaturen

Mit den arty Reparaturen von Collingwood-Norris und Pym sind meine Sticheleien leider nicht zu vergleichen. Die auf der Jogginghose verteilten Fäden gleichen am Ende eher einer schrägen Intervention auf grauer Baumwolle. Santis lobt die Stickerei trotzdem. Der Visible-Mending-Workshop will keine Traumata aus dem Handarbeitsunterricht hervorholen. Es geht auch nicht darum, Schneiderregeln auf den Millimeter genau einzuhalten. Hier ist wichtiger, den Spaß am Reparieren zu finden und sich die Lust an der Tätigkeit zu bewahren.

Christian Fischer

Aber wird die Schönheit der windschiefen Selfmade-Sticheleien auch außerhalb von Wien Bobostan erkannt? Oder handelt es sich beim Visible Mending einmal mehr um einen Mikrotrend privilegierter Konsumenten und Konsumentinnen, die mit den bunten Stickereien kurzzeitig ihr Gewissen beruhigen wollen?

An Alina Saavedra Santis und Serafina Spatt jedenfalls soll es nicht liegen. Sie sind demnächst nicht nur beim Feschmarkt in der Ottakringer Brauerei, einem Lieblingsevents der einschlägigen Zielgruppe, vor Ort. Es sei ihnen wichtig, die bunten Reparaturen auch außerhalb ihrer Bubble bekannter machen, erklären die beiden. Im kommenden Frühjahr soll es unter anderem nach Alterlaa gehen. Es wird sich zeigen, ob Visible Mending wirklich etwas für alle ist. Und ob nicht auch die Männer noch auf den Geschmack kommen. (Anne Feldkamp, 18.5.2022)